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Luegen auf Albanisch

Luegen auf Albanisch

Titel: Luegen auf Albanisch
Autoren: Francine Prosse
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    Am Tag, nachdem Lulas Anwalt ihr am Telefon mitgeteilt hatte, jetzt sei rechtlich alles geregelt, tauchten drei Albaner in einem brandneuen schwarzen Lexus SUV auf. Lula hatte aus dem Fenster in den nieseligen Nachmittag hinausgeblickt und sich eingebildet, der Maulbeerbaum in Mister Stanleys Vorgarten habe darauf gewartet, seine letzten paar Blätter erst abzuwerfen, wenn sie zuschaute. Das war natürlich paranoid und außerdem egoistisch, aber in das Tagebuch, das sie auf Vorschlag ihres Einwanderungsanwalts und ihres Chefs führte, schrieb sie: »Oktober 2005. Fällt in New Jersey ein Blatt herunter, wenn niemand zuschaut?«
    Don Settebello und Mister Stanley würden über so eine Zeile völlig aus dem Häuschen geraten. Dauernd rieten sie Lula, die Erinnerungen an ihr altes Leben in Albanien und die Eindrücke über ihr neues in den Vereinigten Staaten aufzuschreiben. Don hatte sogar schon einen Titel dafür: Mein neues amerikanisches Leben . Lula hatte einen besseren, Fremder in einer fremden Welt , aber den hatte sie bereits in der Stadtbücherei gesehen. Vielleicht konnte sie den Titel trotzdem verwenden. Vielleicht würde es niemand merken.
    Regentropfen perlten auf dem SUV , als er langsam an dem Haus vorbeifuhr, in dem Lula wohnte, arbeitete und auf Mister Stanleys Sohn Zeke aufpasste, der die Abschlussklasse der Highschool besuchte und kaum einen Aufpasser brauchte. Ja, Zeke konnte so manches, was Lula nicht konnte, zum Beispiel Auto fahren. Aber da Mister Stanley der Meinung war, Teenager sollten nicht sich selbst überlassen bleiben, und da er im Morgengrauen zur Wall Street aufbrach und erst spät zurückkam, hatte er Lula eingestellt, um dafür zu sorgen, dass Zeke aß und schlief und seine Hausaufgaben machte. Mister Stanley war sehr sicherheitsbewusst, was Lula äußerst bewundernswert, aber auch gefährlich amerikanisch fand. Kein albanischer Vater würde das seinem Sohn antun und riskieren, aus ihm einen Schwulen zu machen.
    Zu Lulas Pflichten gehörte es, darauf zu achten, dass Lebensmittel im Haus waren. Nachmittags fuhr Zeke sie meist in seinem Oldsmobile Baujahr 1970 zum Supermarkt. Angesichts dessen, wie wenig sie kauften und wie viel davon tiefgefroren war, hätten sie auch einmal im Monat einkaufen können, aber sie genossen das Ritual. Unterwegs gab ihr Zeke Fahrtipps: wer an der Kreuzung als Erster losfuhr und wie man die lautlose Sprache benutzte, die Fahrer davon abhielt, sich gegenseitig umzubringen, wie es in Tirana dauernd geschah. Ebenso gut hätte ihr Zeke die Prinzipien der Astrophysik erklären können, aber Lula schätzte die Geste, und im Gegenzug konnte Zeke sich Lula überlegen fühlen und sich damit anfreunden, ein Kindermädchen zu haben, das nur neun Jahre älter war als er. Der Ausdruck Kindermädchen wurde nie benutzt. Lula erklärte Zeke, in ihrem Heimatland sei es nur Parteibonzen erlaubt gewesen, die schwarzen Leichenwagen zu besitzen, die in ganzen Rudeln durch Tirana bretterten, und dann brach die Wirtschaft zusammen, und niemand konnte sich mehr ein Auto leisten, weshalb die Albaner jetzt mit ihren geklauten oder gebrauchten Mercedes wie Kids fuhren, die ihren Führerschein erst seit fünf Minuten hatten.
    Genau wie Zeke, der immer noch keine Nachtfahrerlaubnis besaß. Aber er war in einer Autokultur aufgewachsen, und Autofahren gehörte zu seinem Geburtsrecht. Jedes Land hatte seine Probleme, doch als Lula sah, wie Amerikaner fuhren, wie amerikanische Kinder fuhren, fühlte sie sich unwillkürlich betrogen, weil sie nicht hier geboren war. Ihr Vater hatte sich oft das Auto ihres Onkels geliehen, hatte es dann mehr oder weniger geklaut und über die albanische Grenze in den Kosovo geschmuggelt, wo ihre Eltern bei einem Autounfall ums Leben kamen. Diese traurige Tatsache hatte Lula bisher weder Mister Stanley noch Zeke gegenüber erwähnt. Das hätte Mister Stanley nur verstört und Zeke zu der Annahme bewogen, seine Lektionen könnten nicht ausreichen, um Lula das Fahren beizubringen.
    Mister Stanley hatte verkündet, Zeke könne diesen Spritfresser von einem Olds haben, wenn er ihn nur selten benutzte. Wenn er überhaupt fahren musste, hätte sein Vater ihn am liebsten in einem Panzer gesehen. Zeke war so verliebt in den Olds, dass er ihn in der Garage stehen ließ und mit dem Bus zur Schule fuhr, und Mister Stanley parkte seinen sieben Jahre alten Acura Minivan vorne in der Einfahrt. Offiziell war Zeke nur erlaubt, bis zum Good Earth Market zu fahren,
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