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Lucian

Lucian

Titel: Lucian
Autoren: Isabel Abedi
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über meine Schulter zurück nach oben. Ich horchte. Niemand war da.
    Warum fing ich dann an zu zittern? Warum fühlte sich das Zittern so seltsam an, warum so fremd und warum gleichzeitig so vertraut? Warum kam es von innen, obwohl ich wusste, dass es gleich von außen kommen würde, wie ein Echo. Oder war das, was ich in mir fühlte, das Echo?
    Ich sah nach oben. Alles war ruhig. Ich sah nach unten. Ich schüttelteden Kopf. Ich ging nach rechts. Ich ging durch die Tür des Treppenhauses in die dritte Etage. Der Teppich war fliederfarben. Vor mir lagen weitere Türen. Vier links, vier rechts. Die dritte Tür von links stand offen.

ZWEIUNDVIERZIG
    Der Raum. Er war da. Ich war angekommen. Ich war hier, in
der Swiss Bell Suite im Old World Hotel von Los Angeles.
    Und es würde passieren. Es würde wieder passieren, jetzt gleich.
    Ich bewegte mich wie im Traum, obwohl ich wach war, hellwach.
    Ich stand auf dem dunkelgrünen Teppich. Ich sah die Wände. Sie waren
mit Holz verkleidet. An der Decke hing der Kronleuchter. Ich sah das Bett mit
der geblümten Tagesdecke. Darüber hing das Bild mit der
Berglandschaft. Dunkle Tannen, eine Wiese im Sonnenschein. Ich konnte mich
hören. Ich konnte mich selbst hören, wie ich das Heidi-Lied
summte. Und ich konnte mich sehen.
    Ich stand in diesem Raum und ich sah mich selbst darin. Ich sah, was schon einmal geschehen war. Ich hörte
mich lachen, ich war allein, ich war glücklich. Ich konnte
fühlen, was ich gefühlt hatte, ich konnte denken, was ich gedacht
hatte: Meine Mutter war unten an der Rezeption gewesen und hatte auf das
Gepäck gewartet, das der Portier noch aus dem Auto holen musste. Gleich
würde sie nach oben kommen. Heute Nacht würde ich bei ihr
schlafen, damit sie die erste Nacht nicht allein im Schweizer Alpenglück
à la Los Angeles verbringen musste, mit augenzwinkernden
Grüßen von Dad. Janne und er hatten schon immer denselben Humor
gehabt. Dad hatte gewusst, dass sie darüber lachen würde. Genau
wie ich.
    Morgen wollten wir zu ihm. Wir wollten ihn abholen, ihn und
meinekleine Schwester Val, und wir würden gemeinsam zu
seinem Haus am Lake Nacimiento fahren.
    Michelle war auf einer
Geschäftsreise. Es hatte Dad Monate gekostet, unseren Besuch bei ihr
durchzusetzen.
    Wir wollten drei Wochen bleiben und in einer Woche wollten
Sebastian und Suse kommen. So hatten wir es geplant.
    Ich sah die
Vorfreude in meinem lachenden Gesicht. Ich ging im Raum umher und summte das
Heidi-Lied, ich drehte mich herum und herum und dann sah ich mich innehalten,
weil ich jemanden gespürt hatte.
    Jemanden, den ich kannte, vor
langer Zeit war ich ihm begegnet, als ich noch ein kleines Mädchen
gewesen war. Ich fühlte diese starke Sehnsucht in mir, den brennenden
Wunsch, ihn wieder zu sehen, ihn wirklich zu sehen. Ihn zu berühren. Aber
er war nicht da. Ich sah mein Gesicht, die tiefe Enttäuschung darin. Ich
ging auf den Spiegel zu, den Spiegel an der Wand, vor dem ich auch jetzt wieder
stand. Er fing an zu zittern.
    Es geschah, es passierte, es wurde
Wirklichkeit. Das Zittern war wieder da, direkt unter meinen
Füßen, die am Boden hafteten, als wären sie damit
verwurzelt. Ich konnte mich nicht rühren, ich konnte nicht weglaufen, ich
konnte nicht – wie jetzt andere Menschen, in anderen Zimmern – um
Hilfe rufen.
    Ich konnte nur dastehen und es geschehen lassen.
    Jetzt.
    Der Spiegel zersprang – ich sah mein Gesicht in tausend
Einzelstücken und ich flog mir selbst entgegen.
    Ich fiel
vornüber zu Boden, ich landete bäuchlings in den Scherben, mit
ausgestreckten Armen. Ein scharfer Schmerz zuckte durch mein Handgelenk. Es
passierte und es ging langsam.
    Ich sah zur Tür, die zugefallen
war. Ich sah zum Nachttisch nebendem Bett, zum Telefon, das
noch immer an der Wand hing. Nur der Hörer hatte sich gelöst,
lautlos baumelte er in der Luft. Das Telefon war vier, vielleicht fünf
Meter von mir entfernt. Aber es waren keine Meter, es waren Ewigkeiten.
    Auf Knien kroch ich darauf zu. Und jetzt dachte ich nur noch an ihn. An
Lucian, der nicht bei mir war. An Lucian, der jetzt alleine blieb. An Lucian,
der jetzt ein gescheiterter Engel war und ewig leben musste. Fühlte er es
auch?
    Fühlte Lucian, was geschah?
    Das Blut war so warm. Es
floss an meiner Hand herunter und sickerte auf den grünen Teppich, immer
mehr, immer mehr Blut, und es machte mich müde, es machte mich schwer und
leicht und so langsam, so . . . langsam . .
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