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Lucian

Lucian

Titel: Lucian
Autoren: Isabel Abedi
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die ich von ihm gesehen hatte, ironische, wütende, heitere, gelassene, erstaunte, verwirrte, ruhige, erregte, traurige, zärtliche.
    Aber so glücklich hatte ich ihn noch nie gesehen.
    Und noch nie so verzweifelt.
    »Uns bleibt nicht mehr viel Zeit, Rebecca«, flüsterte er. Ich schloss die Augen. »Das klingt nach Abschied, Lucian.« »Ja«, sagte er leise. »Es wird Zeit für mich zu gehen.«
    Ich fühlte seine Hände auf meinem Gesicht und dachte: Nein. Nein. Nein.
    Lucian streichelte mein Gesicht. Nur mit dem Finger. Er sagte nichts. Und das brauchte er auch nicht. Ich wusste es ja. Ich wusste, dass wir am Anfang waren und dass dieser Anfang ein Ende war.
    »Wie?«, flüsterte ich, als das Schweigen zu schwer wurde.
    »Wie wird es passieren?«
    Lucian lächelte mich traurig an. »Durch einen einfachen, menschlichen Gedanken. Was wäre, wenn, Rebecca? Was wäre, wenn ich wieder dein Engel würde? Kannst du dir das vorstellen? Kannst du dir das . . . wünschen?«
    Ich schaute ihn an. Ich sah die Adern an seiner Stirn, Adern, durch die Blut floss, warmes, menschliches Blut. Ich strich über seine Haut,die weich war, und ich legte meine Hand auf seine Brust, um seinen Herzschlag zu fühlen. Sanft und regelmäßig schlug er gegen meine Hand.
    »Dann wärst du fort«, flüsterte ich. »Dann wäre ich allein.«
    Lucian streichelte mein Haar. »Weißt du noch, was ich dir am See gesagt habe?«, fragte er zärtlich. »Dass ich dich mehr liebe als mein Leben? Wenn ich wieder zu dem werde, was ich war, dann nur aus diesem Grund: Weil ich dich nicht alleine lassen möchte. Ich will an deiner Seite sein, für immer Rebecca. Aber das kann ich nur auf diese Weise. Verstehst du das?«
    Ich schwieg. Ich nickte. Ja, das verstand ich.
    Lucian ließ seinen Kopf auf meine Brust sinken und einen Moment lagen wir einfach nur da. Im Flur war es ruhig geworden. Lucians Atem strich warm über meinen Hals.
    »Was wäre, wenn«, hörte ich seine Stimme an meinem Ohr. »Was wäre, wenn wir noch einmal zusammen tauchen?«
    Ich drückte meine Lippen an Lucians Wange. »Wo denn?«, fragte ich. »Wo sollten wir das tun?«
    »Im Drachensee.«
    »Aber wir sind hier, hier im Hotel.«
    »Dann segeln wir eben fort«, sagte Lucian. Er hob den Kopf und lächelte mich an. »Wie in dem Bilderbuch von Max und den wilden Kerlen.«
    Ich nickte, diesmal unter Tränen. Ich flüsterte: »An dem Abend, an dem Max seinen Wolfspelz trug und nur Unfug im Kopf hatte, schalt seine Mutter ihn: ›Wilder Kerl.‹«
    Auch Lucians Augen schimmerten jetzt. »Und dann musste er ohne Essen ins Bett«, sagte er leise. »Und genau in dieser Nacht wuchs ein Wald in seinem Zimmer, der wuchs und wuchs, bis die Decke voll Laub hing und die Wände so weit wie die ganze Welt waren . . .«
    » . . . Und plötzlich war da ein Schiff«, flüsterte ich weiter. »Nur für Max, und er segelte davon . . .«
    Lucian nickte. »Und das werden wir auch tun Rebecca. Wir segeln zum See. Wir müssen nur vorher noch etwas erledigen.«
    Er löste sich sanft von mir und ging zu dem Telefonhörer, der noch immer an der Wand baumelte.
    Ich schloss die Augen. Ich hörte ihn, wie er das tat, was er nur als Mensch konnte. Er holte Hilfe.
    Dann fühlte ich seine Hände. Er hob mich vom Boden auf und trug mich auf das Bett. Behutsam legte er sich zu mir und zog mich in seinen Arm. Ich hörte sein Herz schlagen und ich hörte seine Stimme in meinen Haaren.
    »Rebecca?«
    »Ja?«
    »Kommst du mit?«
    Ich nickte. Ganz langsam, während mein Atem immer ruhiger, immer tiefer wurde.
    »Ja«, sagte ich. »Ich komme mit.«
    Ich hob meinen Kopf und wir sahen einander an. Lucians Augen waren jetzt sehr hell und sein Gesicht erschien mir blasser als je zuvor.
    »Küss mich«, flüsterte ich.
    Er küsste mich. Dann schlossen wir die Augen.
    Der Raum wurde weit, so weit wie die Welt. Und plötzlich war da ein Schiff für Lucian und mich, und wir segelten davon. Tag und Nacht und wochenlang und fast ein ganzes Jahr, bis zu dem Ort, an dem wir Abschied nehmen würden.
    Es war dunkel, aber am Himmel leuchtete der Mond.
    Wir glitten ins Wasser, beide zusammen. Seite an Seite tauchten wir unter, immer tiefer und tiefer, bis alles still war, bis nichts undniemand mehr da war. Keine Welt, kein Himmel, kein Mond, nur noch wir beide.
    Es war dunkel, aber wir konnten uns sehen.
    Wir fassten uns an den Händen und wir lachten.
    Noch einmal zog mich Lucian an seine Brust. Noch einmal küssten wir uns und noch einmal wurde sein
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