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Lokale Erschuetterung

Lokale Erschuetterung

Titel: Lokale Erschuetterung
Autoren: Kathrin Gerlof
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im Bett.
    An der großen Kreuzung bleibt Hanns unschlüssig stehen. Straßenbahn oder einfach ziellos laufen? Beides hat beruhigende Wirkung. Eine lange Tour bis in irgendein Depot oder zur Endhaltestelle, die hier in dieser Stadt immer mit leisem Singsang angekündigt wird, damit auch kein Fahrgast das Aussteigen vergisst. Kann er machen. Ein Bier bekommt er überall.
    An der Haltestelle gegenüber versucht ein Mann beim Laufen in den Boden zu kriechen. Ein junger Mann in sauberen Klamotten, tief gebeugt. Ein Artist, ein Schauspieler, ein Bettler, ein Rumäne. Hanns hat den Kerl schon oft beobachtet. Ihn und seine Kollegen. Alle sind sie jung, alle verkrüppelt. Zumindest beim Betteln. Vor zwei Tagen hat er den gleichen jungen Mann da, der wie ein Winkeleisen an der Haltestelle steht, zum Supermarkt laufen sehen. Immer noch ein Krüppel, aber deutlich weniger behindert als hier bei der Arbeit. Aufrechten Ganges ist er in den Kaiser’s gelaufen, das rechte Bein leicht nachziehend, die Hände in den Hosentaschen, fröhlich fast. So sah es aus von weitem. Von oben betrachtet, aus dem sechsten Stock. Ein Mann wie jeder andere, nicht gut oder schlecht gekleidet, frisiert halbwegs und ein wenig forsch.
    Forsch ist er hier an der Kreuzung auch, aber auf andere Art.
    Zeigt die Ampel Rot, humpelt der Mann zu den wartenden Autos, streckt eine Hand aus, klopft ans Fenster der Fahrerseite, hebt den Kopf ein wenig und verlangt mit unmissverständlicher Geste nach etwas Kleingeld. Lächelt. Nun, wenn man das lächeln nennen kann. Hanns findet die Grimasse des Bettlers zum Fürchten. Lieber sähe er ihn fröhlich zum Supermarkt laufen.
    |12| Willkommen, Europa, murmelt Hanns. Was haben wir uns da eingebrockt. Krüppel, die keine sind, und korrupte Reiseleiter. Verblödete Zwillinge, die Politik machen, Geheimdienstler, die sich zu Politikern umoperieren lassen, bald noch serbische Massenmörder und türkische Fundamentalisten.
    Hin und wieder macht es ihm Spaß, solche Sachen vor sich hin zu murmeln. Gemeinheiten, Widerlichkeiten, Bosheiten, Wahrheiten, Schlagzeilen. Es bereitet ihm eine Freude, Kanake zu flüstern, wenn er einen dieser Burschen mit den dicken Goldketten und den gegelten Haaren an sich vorbeilaufen sieht. Er sendet Kopftuchfrauen verfluchende Gedanken hinterher, macht sich lustig über russische Prahlhänse. Und wenn er sich Luft gemacht hat, ausreichend, kann er allen wieder gut sein und glauben, dass er glaubt, sie seien ihm willkommen und er verstünde auch nur das Geringste von ihrem Leben.
    Wieso der also hier steht, der Bettler? Noch nie hat Hanns gesehen, dass dem etwas gegeben wird. Die Autofenster bleiben geschlossen, oder schlimmer noch, humpelt die Gestalt langsam auf die Autos zu, werden sämtliche Fensterheber betätigt.
    Irgendwann überfährt ihn jemand. Denkt Hanns. Ist er sich sicher. Irgendwann gehen mit irgendeinem die Pferde durch, und der fährt den Krüppel dann um. Dann haben wir es mit einem rassistischen Benzfahrer zu tun oder einem autoritären Audibesitzer. Dann ist hier die Kacke am Dampfen. Hanns formuliert passende Schlagzeilen der Empörung. Darin war er früher gut. Er war der Beste von allen in der Redaktion. Wenn es richtig zur Sache ging, wenn die Leser an den Haken geholt werden sollten, haben sie ihn gefragt. Ob er die Headlines machen kann. Die fetten Vierwortheadlines, bei denen einem das Blut in den Ohren rauscht.
    |13| Aber inzwischen sind andere besser als er. So fett, wie die Überschriften heute klingen, kann er nicht. Schmeckt’s, du Bestie?, darauf würde er nicht kommen. Nicht mal in seinen schlimmsten Alpträumen. Schmeckt’s, du Bestie?, wenn wir dich in die Finger kriegen, reißen wir dir die Gedärme aus dem Leib und spucken dir in die Visage und machen aus dir Kleinholz. Schmeckt’s, du Bestie? Das brächte er nicht. Nicht mal für einen Kinder-Ficker. Drei Worte und ein Satzzeichen, und schon ist die ganze Welt wieder in den Fugen, und ein noch nicht verurteilter Vergewaltiger hat bekommen, was er verdient. Dafür müsste er heute einen halben Tag am Bleistift kauen. Aber endlich, der Kreisverkehr rollt!, das wird er wohl bringen. Und vielleicht wird es der ehrlichste Journalismus sein, den er jemals betrieben hat. Bis jetzt war alles Propaganda und Lüge. Wenn das mal nicht eine Tautologie ist, murmelt Hanns und sieht, wie der Krüppel tatsächlich ein wenig Glück hat mit dem, was er tut. Ein Opelkadettfahrer öffnet das Seitenfenster und steckt dem Kerl
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