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Loewenstern

Loewenstern

Titel: Loewenstern
Autoren: Adolf Muschg
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angezeigt. Die Suchmaschine bot für die Letternkombination zahllose Vorschläge an, vom «Dachgeschoß» bis zur «Deutschen Gesellschaft für Gentherapie», aber kein Schlüssel wollte passen.
    Und wieder hatte ich Glück. Als ich Hartmut von Hentig besuchte, gab er mir einen Brief an meine Frau mit, in dem er sich für eine Abendeinladung bedankte. In die linke untere Ecke des verschlossenen Umschlagshatte er die zwei Buchstaben gesetzt: «d. G.» Was heißt das? – Das weiß man nicht mehr? fragte er seinerseits erstaunt. «
Durch Güte
». Das schreibt man auf Briefe, die
persönlich
überbracht werden.
    Ich hatte zu danken. Denn wer immer der Adressat von Löwensterns Papieren war: sie waren «durch Güte» auszuliefern, von Hand zu Hand.
    14
    Ich sehe:
    Hermann Ludwig von Löwenstern sitzt an seinem Teich, das Gutshaus im Rücken, ein Taschenbuch auf den Knien, den Bleistift im Mund – dieser könnte sich zu leicht im Gras verlieren. Es müßte gemäht werden; Löwenstern sollte sich bewegen. Er wird fünfzig, der Arzt in Reval hat ihm eine schlagflüssige Konstitution attestiert und vorsorglich zur Ader gelassen. Viel reiten! Statt dessen sitzt er und schreibt, denn er hat das Notizbuch mitgenommen. Aber die Seiten sind immer noch leer, und er läßt den Bleistift zwischen den Zähnen wippen. Der Arzt hat ihm das Rauchen verboten. Sein Blut sei zu dick. Es tritt nur noch träge, als müsse es sich bitten lassen, unter dem Schnepper, dem mechanischen Blutegel, hervor.
    Es ist später Nachmittag im September und wird nach vier Uhr kühl; die Sonne steht da, wo ich sie im vergangenen Mai gesehen habe, tief zwischen den Bäumen, aber Ulmen und Birken tragen noch ihr volles Laub. Die Luft ist still. Kein Amselgeläut mehr, auch die Frösche schweigen.
    Was soll er schreiben? Tagebuch? Aber seine Tage gleichen einander, werden nur kürzer. Minchen benützt das Tageslicht, solange es dauert, für ihre Handarbeit. Sie sitzt im Salon am Fenster; frische Luft bekäme ihr auch.
    Bis zum Abendessen hat er noch zwei Stunden Zeit. Aber wofür?
    Minchen ruft ihn, wenn sein Leibgericht bereit ist, Königsberger Klopse, fast ohne Fett. Sie hat es nicht nötig gehabt, kochen zu lernen, aber jetzt tut sie es für seine Gesundheit. Die estnische Köchin glaubt, viel und fett essen sei gesund. Das weiß Minchen besser.
    Ermolai hat keinen Stoff. Er ist ja auch kein Schriftsteller, und sein Leben ist zu lange her.
    Seine Pfeifentasche geht im hohen Gras nicht verloren. Man braucht sie nur nicht auf den ersten Blick zu bemerken. Langsam stopft er sicheine Pfeife, anzünden will er sie noch nicht. Aber den Bleistift nimmt er schon aus dem Mund und legt ihn in den Falz des Taschenbuchs.
    Er hat auch etwas zum Lesen mitgenommen, die neue Lieferung von
Cobbett’s Political Register
, die mit dem englischen Packetboot, einer Dampffregatte, in Reval angekommen ist. Kolja, der unermüdliche Bediente, hat sie abgeholt, zusammen mit der Lieferung Tabak – über englischen Shag geht nichts, mit seiner Beimischung von schwarzem Kraut, Latakia. Würzig und ungesund. Aber er hat sich seit dem letzten Türkenkrieg daran gewöhnt.
    Griechenland ist befreit. Und das dampfkraftgetriebene Schiff wurde fällig. Natürlich haben es die Engländer gebaut. Die Segelschiffahrt geht zu Ende.
    War denn sein Leben kein Stoff?
    Er zündet sich die Pfeife an, und während er die ersten Züge tut, tiefe Züge der zwanghaften, doch wohlschmeckenden Befreiung, fällt ihm ein:
    Wenn man diesen Stoff neu zuschneiden könnte.
    Und beginnt, den Satz zu notieren, und immer noch einen, ohne zu bemerken, daß die Seite immer weniger leer wird und daß er schon die nächste angefangen hat.
    «Gulliver in Japan». Diese Fortsetzung von Swifts Erzählung hat er sich vor dreißig Jahren vorgenommen. Dann kam etwas dazwischen, eine unvollendete Reise nach Japan, die Jahre als Seemann, sein nacktes Leben. Was hat es zu wünschen übriggelassen? War es je nackt genug?
    Text ist Verkleidung.
    Jetzt hat der Gutsherr von Rasik Zeit; er hat – wenn er auch hört, was der Arzt verschweigt – nicht mehr allzuviel davon. Was hindert ihn, über sie zu verfügen? Seine Geschichte neu zu schreiben – nicht
ganz
neu. Aber so, wie er sie erlebt haben möchte, wäre er damals derjenige gewesen, der er jetzt schon nicht mehr ist. Da gibt es viel Spielraum. Er braucht die nötige Ruhe, ihn gut zu nützen. Aber er muß sich beeilen.
    Es wird kühl, jeden Tag früher, und es kommen
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