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Loewenstern

Loewenstern

Titel: Loewenstern
Autoren: Adolf Muschg
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seinen Sohn zum Studium der Rechte auf die neue Universität Dorpat geschickt, wo er nebenbei fünf Sprachen lernte. Kaiserin Katharina hatte dem verdienten Justizrat ein Gut bei Twer geschenkt, aber es hatte noch einer weiteren Juristengeneration bedurft, in Gestalt von Pjotrs feinsinnigem und immer leidenden Vater, bis der Sohn allem, was in Rußland Recht hieß, den Rücken kehrte. Diplomat wollte er nicht werden, nur das Weltmeer hatte ihm das gewünschte Ausland zu bieten. Aber dann führte kein Weg am Nadelöhr der Kadettenanstalt im «Italienischen Palast» vorbei, und das kostete vier Jahre.
    Immerhin hatte ihm die Kaserne einen Freund beschert: Wassili Michailowitsch Golownin. Dabei waren die beiden so ungleich wie nur möglich. Aber an Wasjas Übergröße war nichts Ungeschlachtes, das Werk seiner Hände blieb Feinarbeit, auch beim Schürzen grober Knoten, und im Takelwerk des Exerzierschiffes bewegte er sich wie auf dem festen Boden, kannte Schwindel sowenig wie Seekrankheit und schwamm wie eine Robbe. Dabei war er im tiefsten Rußland aufgewachsen und in seinen Bedürfnissen so anspruchslos, daß er sich sogar die Küche der Anstalt munden ließ. Schwerer als sein hagerer Körper wirkte sein Gesicht, und wäre von der breiten Stirn das Haar nicht so früh zurückgewichen, man hätte es bäurisch finden können. Aber sein wohlgeformter Mund hatte etwas Üppiges und zeigte von Natur einen bübischen Ausdruck, der mit seinem gefaßten Wesen auffallend kontrastierte. Dieser Kirschmund erinnerte Rikord an denjenigen Kittys, seiner irischen Gouvernante, die ihn mit märchenhaften Phantasien genährt hatte.
    Golownins Eltern waren hintereinander weggestorben, als er sieben Jahre alt war. Er hatte sich in der stillen Bibliothek, unter den gestrengen Augen seiner Großtante, den melancholischen einer französischen Gouvernante und den unverwüstlich herzhaften einerKinderfrau, an den Reisebeschreibungen Cooks zum frühen Leser gebildet. Doch da die Tante viel bettlägrig war, machte er sich auch in seiner kleinen, doch weitläufigen Welt immer mehr zu seinem eigenen Herrn und nützte seinen Spielraum mit wachsendem Bedacht. Er begleitete Pilgergruppen zum nahen Wallfahrtskloster, jüdische Händler zum Vieh- oder Tuchmarkt, schlich sich auch unter fahrendes Volk, zu Wahrsagerinnen und Kräuterfrauen, oder in die nächtlichen Feste der Zigeuner. Am liebsten besuchte er die Tatarendörfer, die zum Gut gehörten, lauschte dem Muezzin und gewann Freunde, die ihn in ihre Schule mitnahmen oder zum Freitagsgebet in die Moschee. Er lernte die Ehrfurcht, mit der sie ihm begegneten, mit Respekt für ihre Sitten erwidern, ohne sich tiefer darauf einzulassen. Denn er fühlte sich nicht zum Gutsherrn bestimmt; die Welt, auf die er sich vorbereitete, war eine ganz andere.
    Sie waren schon zwei Jahre Marinekadetten, als Rikord auf ein Dokument stieß, das ihm den Einstieg des Landjunkers in die Seefahrt erklärte – es fiel aus einem alten nautischen Lehrbuch heraus, das ihm Golownin geliehen hatte. Denn bei aller Freundschaft, die damals noch nicht auf Leben und Tod geprüft war: über seine Kindheit sprach Golownin nie, und es schien ihn immer leicht zu genieren, wenn Rikord, der kluge, immer auch ein wenig altkluge Akademikersohn, um ihn warb und gar als Vorbild für sich in Anspruch nahm. Damals hatten sie sich oft nach Lichterlöschen in der Wärmkammer zwischen den Schlafsälen zusammengefunden, um lateinische Dichter zu lesen. Während Rikord seine Bildung fast mit der Muttermilch eingesogen hatte, hatte Golownin die «Oden» des Horaz, die er auf eigene Faust entdeckt hatte, für den Erwerb lateinischer Elementarkenntnisse verwenden müssen. Die Nachhilfe Rikords war willkommen, und dieser zeigte sich überglücklich, sie nach Dienstschluß zu leisten, und schlug sich dafür gern einige Nachtstunden um die Ohren. Da niemand sonst in der Kaserne solche Vorlieben teilte, blieben die Freunde vor dem lichtspendenden Feuer zuverlässig allein – es sei denn, es fielen, oft nach Mitternacht, ein paar nächtliche Ausbrecher herein,um mit gedämpftem Lärm und Juhe eine Schafskeule oder einen Schinken, den sie in der Vorstadt organisiert hatten, am Ofen zu braten, Weibergeschichten auszupacken und mit Wodka zu begießen. Golownin machte zu solchen Störungen gute Miene, während Rikord schmerzlich verstummte.
    Aber dank dem vergessenen Brief hatte er einen Blick hinter die Kulissen von Golownins Schweigsamkeit getan, und
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