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Loewenstern

Loewenstern

Titel: Loewenstern
Autoren: Adolf Muschg
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er werde keinem Menschen gefährlich. Aber nicht bei mir! habe sie ausgerufen, Sie sind am längsten unter meinem Dach gewesen! Wenn Sie nicht wissen, was Sie tun, wie wollen Sie für England kämpfen! – Da habe er sich verbeugt, sei wortlos weggegangen, man habe gehört, wie er sein Zimmer aufräumte, dann war er verschwunden, mitten in der Nacht, und am nächsten Tag sei durch Boten ein
gezeichneter
Strauß weißer Narzissen bei Sally angekommen – ohne Absender.
    Er zeichnet gut, sagte Rikord.
    Soweit wäre es noch gekommen, daß er mich zeichnet! sagte die Wirtin.
    Moors Hang zum Schlafwandeln war schon in der Kadettenanstalt bekannt und legte sich erst beim Dienst auf See; das Schaukeln der Hängematte schien ihm gutzutun. Moor braucht eine Wiege, kommentierte Rikord, fester Boden unter den Füßen macht ihn schwindlig. Schon seine Mutter wollte hoch hinaus und mußte am Ende froh sein, daß sich ein deutscher Bäcker erbarmte, sonst wäre sie mit dem Kind sitzengeblieben.
    Er sucht etwas, sagte Golownin.
    Weil er mehr als ein Leben führt, und keins richtig, sagte Rikord.
    Er ist pflichtbewußt.
    Auch das noch!
Positively uncanny
, grinste Rikord.
    Der Mensch war ein Rätsel, und Rikord ein Rätsellöser. Wer war Moors wirklicher Vater? Seine Mutter hatte es nie verraten. Warum haßte er sie so und kam doch nicht von ihr los? Eben
darum
. Haß ist immer enttäuschte Liebe. Und warum haßte Moor Napoleon, den Ersten Konsul? Weil beide Muttersöhne waren und die Mutter ihnen alles gegeben hatte, nur eines nicht: hohe Geburt. Warum vergötterte Moor den Zaren? Weil der zur Krone
geboren
war. Alles war ihm geschenkt – nichts brauchte er sich zu verdienen. Warum aber wollte Moor in England ein Deutscher sein wie sein verhaßter Stiefvater? Weil sich dieser zu seinem Brot auch die Butter verdiente, und nicht zu knapp – ein Vorbild wider Willen. Doch wenn er schon einen deutschen Namen hat, warum muß er jetzt
englisch
ausgesprochen sein – Muhr? Weil er
dazugehören
will – er will immer
beides,
einzig dastehen und bei den Leuten sein. Nicht nur
besser
als alle andern, sondern auch
so gut
wie die andern. Verstehst du?
    Golownin zog an seiner Pfeife, der einzigen, die er sich jeden Abend gönnte. – Ja, jeder Mensch besteht aus Widersprüchen. Deine sind unterhaltsam. – Darauf konnte ihn Rikord nur noch ansehen, ein wenig mißtrauisch, aber auch stumm vor Glück.
    Portsmouth, April 1803. War das ein englischer Frühling? Das Grün stockte an den Bäumen, nur auf den Wiesen machte es anhaltender Regen saftig. Zugleich blies ein scharfer Wind, so daß man in den Hafengäßchen entweder von selbst fortgetrieben wurde oder nicht vom Fleck kam. Hatten die Freunde den schützenden Hof vor ihrer Stammkneipe erreicht, so versicherten sie, daß sie sich in Portsmouth «wie zu Hause» fühlten.
    Die Küche des
Unicorn
pflegte das Exotische. Die Fischsuppe war mit Curry gewürzt und so heiß, daß man sich den Mund verbrannte, und das warme Bier war wenigstens als Löschwasser geeignet. Aberder Heringssalat schmeckte besser als Sallys Weißfisch, und die Gnocchi an Liebesapfeltunke erinnerten Rikord von
sehr ferne
an die Küche Italiens. Hatte man ebenerdig den Hunger gestillt, kamen im Oberstock höhere Bedürfnisse zu ihrem Recht. Auch wenn die Gesellschaft überwiegend russisch war, verteilte sie sich in dem weitläufigen Bau, und die Freunde hatten sich eine stille Ecke erobert, in der sie für sich sein konnten wie einst in der Wärmkammer.
    Das Haus des Wirtes – er nannte sich Green – hatte viele Wohnungen, und in jeder brannte ein Feuer, doch genährt sein wollte es von den Gästen selbst, nur das Brennholz dafür lag bereit. Dafür war Fingerfutter
on the house
, kleine Leckerbissen, mit denen das ozeanische Personal fliegend aufwartete: getrockneter Tintenfisch, rohe Krabben, Blättchen aus Seetang, Oliven oder kandierte Südfrüchte. Golownin verwahrte den Hausschlüssel, aber sie schoben die Heimkehr regelmäßig so lange hinaus, bis es Sally – hoffentlich – müde geworden war, auf sie zu warten.
    Das
Unicorn
– mit vollem Namen:
The Unicorn and The Fly
– liegt in einem Hinterhof, zu dem man durch einen mit Katzenkopf gepflasterten Durchgang gelangt. Was als erstes ins Auge fällt, ist das
andere Licht
. Unter dem Wirtshausschild steht eine gußeiserne Laterne, in der ein fahles Feuer brennt, Tag und Nacht. Es ist das erste Gaslicht in Portsmouth, eine Erfindung des Wirts, der im Keller eine
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