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Loewenstern

Loewenstern

Titel: Loewenstern
Autoren: Adolf Muschg
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Glasaugen. Mitten aus der Stirn aber wächst ihm ein verdrilltes Horn.
    Was Green zu erklären bereit ist: das ausgestopfte Einhorn war einmal ein Grubenpony im Bergwerk von St. Just am westlichsten Ende Britanniens, wo der Schiefer direkt von der Klippe gebrochen wird. Wenn man Green hört, hat ihm das Geschäft so viel Gewinn gebracht, daß er einen Walfänger ausrüsten konnte; dieser habe ihn – das hätten Jugendträume so an sich – zum Invaliden gemacht. Als er nämlich einen Narwal harpunierte, habe ihn dieser an der Wurfleine ins Wasser gerissen und mit der Schwanzflosse kurz und klein geschlagen. Aber schließlich habe der Wal daran glauben und seinen Kopfschmuck hergeben müssen, um aus dem Pony ein Einhornzu machen. In der Südsee habe Green gelernt, Tiere zu präparieren, natürlich auch menschliche Köpfe.
    Soviel zum
Einhorn
. Und was ist mit der
Fliege
?
    Dafür müssen Sie sich mein Schild richtig ansehen.
    Und nächstes Mal sahen sie es im Gaslicht: das Fabeltier über dem Eingang ist beritten, von einem käferartigen Wesen mit Dreispitz, das an Bonaparte erinnert, denn es steckt eins seiner Krallenfüßchen in die uniformierte Brust. Seltsam nur, daß der neue Herr der Welt, als Green das Anwesen erworben haben wollte, noch ein namenloser Artillerieleutnant gewesen war. Doch Green verzieht keine Miene, wenn er erklärt:
Gouverner, c’est prévoir!
    Als Rikord hinter der Wand nach der versteckten Hälfte des Einhorns forschte, stieß er statt dessen auf einen gemauerten Schacht, der immerhin ein anderes Rätsel löste: dasjenige von Greens Allgegenwart. Denn fast genügte es, sich an ihn zu erinnern, da stand er wie gerufen schon da und fragte mit kehligem Baß: Noch ein Wunsch?
    Green setzte sich nie. Er hing in seinen Krücken, welche die Schultern auf Kopfhöhe stemmten; sie ließen seinen Oberleib mächtig erscheinen. Hüften und Beine waren von einer weißen Schürze verhängt. Doch wenn er sich umdrehte, sah man seine Beine baumeln, und die Stiefel schleiften auf dem Fußboden nach. Sein Gesicht wirkte zugleich gebieterisch und zum Erschrecken ausgezehrt. Hielten ihn seine Krücken aufrecht, so schwankte er zugleich wie ein Baum im Wind. Es war ein Rätsel, wie er die steilen Treppen meisterte. Dennoch konnte er ebenso plötzlich oben in den Clubräumen auftauchen wie unten in der Gaststube.
    Wie machen Sie das? fragte Rikord.
    Sie haben doch eben meine Fahrkunst entdeckt.
    Um zu wissen, was eine Fahrkunst war, mußte man Bergmann gewesen sein. Green habe es im westlichen Virginia bis zum Steiger gebracht. Wenn man in die Grube fahre, aber mitsamt seiner Last auch wieder auftauchen wolle, sei ein mechanischer Aufzug unerläßlich; der werde
Fahrkunst
genannt. Bisher sei noch kein Gast dahintergekommen; dafür habe sich Rikord ein Krüglein mit japanesischem Reiswein verdient.
On the house
.
    Es ist übrigens ein Haus ohne Frauen; dieses Rätsel hat Rikord bereits der Lösung nähergebracht. Er hat das Auge des Architekten geerbt, dem es natürlich ist, einen Raum von vielen Seiten zu betrachten.
    Wie ist der Pferdestall zum Herrenclub geworden, und warum nimmt sich dieser, von oben gesehen, wie eine aufgedeckte Puppenstube aus? Als Green das
Lamb
erwarb, war es ein klassisches
Public house,
will sagen: ein Bordell; davon zeugt immer noch die Schrift an der Hintertreppe: GENTLEMEN ONLY. Zutrittsberechtigt waren Offiziere aus aller Herren Ländern, also fehlten auch Spione nicht, denn wer eine Frau mietet, dem sitzt auch die Zunge locker. «In diesem Haus hat England Schlachten gewonnen und, was mehr ist: Kriege vermieden.» Das Untergeschoß war eine Kontaktzone; und während sich die Herren unter den Damen umzusehen glaubten, hatten sich in Wirklichkeit diese den passenden Gimpel ausgeguckt, um ihn in einer Bettkoje des Oberstocks abzuschöpfen. Doch als Master Green das Haus übernahm, ließ er zwar die Einrichtung ungefähr bestehen, veränderte aber seine Bestimmung. Mit Damen konnte er nicht mehr dienen. Das
Lamb
wurde zum
Unicorn
, das Parterre zum Speiselokal für jedermann, der Oberstock aber eine Sphäre für Gentlemen, die unter sich sein wollten. Die Bedienung besorgten Insulaner, Greens Helfer und Pfleger aus der Zeit, als er walwund auf Nukahiwa gestrandet war. Anfangs hätte die Mannschaft verspeist werden sollen, aber dann war es gelungen, sich durch Anstimmen gregorianischer Gesänge – der junge Green hatte in Dublin als Ministrant gedient – mit einem Tabu zu belegen.
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