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Loewenstern

Loewenstern

Titel: Loewenstern
Autoren: Adolf Muschg
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gebildeten Generals an seine geliebte Herrscherin hätte ihm noch mehr Ehre gemacht, wenn er die Empfehlung des Neffen mit weniger Eigenlob verbunden hätte. Offensichtlich ließ er für diesen sogar eine Abschrift anfertigen, damit er nicht im Zweifel sei,
wem
er sein Glück zu verdanken habe. Ob das Hohelied einer idealen Kindheit die Kaiserin noch erreicht hat, ist allerdings ungewiß, denn der Brief fiel in ihre Sterbezeit. Um so bestimmter darf man annehmen, daß ihr Sohn und Nachfolger ihn
nicht
gelesen hat, denn sein erstes Prinzip bestand bekanntlich darin, der verhaßten Mutter zuwiderzuhandeln und ihre Gunstbeweise nachträglich zu kassieren.
    Dennoch trat Wassili Golownin gerade unter Paul I. in die Kadettenschule ein, und dieser schickte ihn sogar zum ersten Mal nach England, um gegen die Französische Revolution Schützenhilfe zu leisten. Sechs Jahre später, als Paul im Michaelsschloß, dem selbstgebauten Gefängnis seines Mißtrauens, angeblich einem Schlaganfall zum Opfer gefallen war und Alexander I. als junger Gott den Thron bestieg, konnte der Wille der großen Katharina, was ihre Nachfolge betraf, als erfüllt gelten. Aber der Wunsch Maxim Golownins war es auch: sein Neffe zählte, ein zweites Mal nach England verabschiedet, diesmal von einem wahren Friedensfürsten, zu den Hoffnungen der russischen Seefahrt. Mit dem Zollstock gemessen, war er die größte seit Menschengedenken.
    Das nachlässige Versteck von Onkel Maxims Brief deutet darauf, daß ihn Golownin zwar nicht weggeworfen, aber bald vergessen hat. Die musterhafte Idylle, die der General von Wasjas Kindheitmalte, hatte mit ihrer Wirklichkeit wohl wenig zu tun, und man darf annehmen, Wasja wäre aus Gylinki mit oder ohne Segen eines Onkels ausgebrochen, der aus seinem Leben wieder verschwand, wie er hineingetreten war. Inzwischen besaß Wasja fast nichts mehr, was ihn sichtbar an seine Familie band, und das Gut, das ihn ernährte, sollte lebenslänglich mehr oder minder getreuen Verwaltern überlassen bleiben. Als er fünfundfünfzigjährig in Petersburg starb, an der Cholera und als Generalzeugmeister der Flotte im Admiralsrang, hatte er Gylinki nicht mehr betreten.
    Daß er aber mit achtzehn Jahren unverhofft zu einem Blutsbruder gekommen war, hatte sich ergeben wie folgt:
    Golownin und Rikord waren als frischgebackene Leutnants der Kriegsbrigg
Noli me tangere
zugeteilt und zur Feuertaufe in die Schären bei Wyborg ausgelaufen. Das schwedische Geschwader, in die Enge getrieben, ripostierte mit Kugeln, die man in der Schiffsschmiede zur Rotglut erhitzt hatte, und eine davon schlug neben der Pulverkammer ein. Der Kapitän, auf das Schlimmste gefaßt, kommandierte alle verfügbare Mannschaft unter Deck, wo man durch den Stauraum an die kritische Stelle zu dringen hoffte. Doch war der Weg durch Last verstellt, und die Zwischenräume erlaubten kaum einen Durchschlupf. Golownin preßte sich trotzdem in ganzer Größe hinein, und andere begannen, ihn zu schieben wie ein Brot, das nicht in den Ofen will. Rikord aber konnte den Freund nicht verschwinden sehen und stürzte ihm nach. Wie Maulwürfe wühlten sie sich durch den Gang, den sie erst schaffen mußten, bis der Druck unverhofft wich und sie auf engstem Raum geduckt stehen konnten. Zu ihren Füßen schmauchte die Kugel auf einer Lage Segeltuch und rauchte beißend trotz der Zugluft, die durch das geschlagene Leck eindrang. Für Wasser lag es zu hoch. Meine Hose wäre naß, keuchte Rikord; und alsbald waren sie hustend mit dem Abreißen seines Beinkleids beschäftigt, das Wasja schließlich mit beiden Händen auf das zischende Eisen preßte, als verschließe er eine Schlagader. Es stank nun auch nach verbranntem Fleisch, doch Golownin ließ nicht locker, bis sich die Kugel entfärbt hatte. Dann robbten sie sich glücklich in den Stauraumzurück, wo sie mit einem Aufschrei der Erlösung empfangen wurden.
    Als die siegreiche «Rührmichnichtan» in Kronstadt anlegte, war es das Erste, daß der Admiral seinen Helden die Georgsmedaille um den Hals hängte. Golownin ging noch zwei Wochen mit verbundenen Händen herum – «Lazarus aus dem Grabe», wie eine Gazette der Hauptstadt vermerkte. Dann wuchs eine rosige Kinderhaut nach, die sich erst nach Wochen wieder mit Schwielen besetzte. Aber die Verbindung «Gullivers» – wie Wasja seiner Größe wegen genannt wurde – und des «Tenors» war unauflöslich geworden.
    Dennoch sollte der Dienst die Freunde trennen; Golownin wurde mit der
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