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Loewenstern

Loewenstern

Titel: Loewenstern
Autoren: Adolf Muschg
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Vermummung die Strahlung des Schwarzen Loches, in das sie steigen mußten, wenigstens ein paar Minuten aushielten, nur damit
etwas geschah
– und der Bestätigung, daß es nicht zu stopfen war, ihre Gesundheit opferten. Sie waren die ersten Abgeschriebenen einer Rechnung, die nur darum so kostengünstig – gar umweltschonend! – ausgesehen hatte, weil sie ohne den Wirt gemacht war. Die Fachleute hatten nicht mehr mit der Unzurechnungsfähigkeit der Natur gerechnet; auch nicht derjenigen der menschlichen Natur, die sich von keiner avancierten Technologie reviedieren ließ.
    4
    Viele Ausländer nahmen das nächste Flugzeug und machten sich aus dem radioaktiven Staub, den ein ungünstiger Wind auf die Dreißig-Millionen-Agglomeration Tokyo zuzutreiben drohte. Wenn sie evakuiert werden mußte – wohin? Der Super- GAU , noch nicht beim Namen genannt, zeigte sich zuerst an der Kernschmelze verläßlicher Information. Alle bekannten Koordinaten wurden biegsam; weil die Sprecher logen? das wäre die in Japan weniger wahrscheinliche, doch gnädigere Variante gewesen: nein, weil sie nichts wußten. Die Fachleute waren auf einen Fall, den sie ausgeschlossen hatten, nicht vorbereitet.
    Für uns stand im März nur soviel fest: wir würden unseren Flug Zürich-Japan nicht absagen. Keine Heldentat: unsere Reisepläne berührten das unmittelbare Katastrophengebiet nicht, Ausgangspunkt blieb die Kansai-Region, wohin bereits viele Botschaften ausgewichen waren. Dem deutschen wie dem Schweizer Botschafter begegneten wir immerhin in Tokyo, wo kurzfristig ein Anlaß arrangiert wurde, mit den Dagebliebenen ins Gespräch zu kommen.
    Solange wir in Japan vor dem Fernseher saßen, war es nicht viel anders als in der Schweiz: der Ausnahmezustand beherrschte alle Stunden des Tages. Als wir reisten, machte er sich nur noch diskret bemerkbar. Was erkennbar fehlte, waren Touristen; im Hotel von Matsumae waren wir die einzigen, und später hatten wir die Fähre von Otaru nach Maizuru fast für uns allein. In Hokkaido, dem alten Ezo, führte die Spur meines russischen Kapitäns durch Wälder, vor denen wir dringend gewarntwurden. Sogar in die Schlucht am Stadtrand, wo eines von Golownins Gefängnissen gestanden hatte, nahm der ortskundige Führer eine Trillerpfeife mit, zur Abschreckung der Bären, und ließ alle paar Schritt einen scharfen Ton hören. Durch diese Wälder hatte Golownin mit fünf Gefährten, um irgendwo an ein unbewachtes Boot zu gelangen, seinen verzweifelten Fluchtversuch unternommen.
    Als wir in die Schweiz zurückflogen, hatte die
Tokyo Electric Company
für die Rückkehr der Vertriebenen in die Reaktorumgebung noch absehbare Fristen in Aussicht gestellt. Inzwischen gehen die Jungen weg, die keine fünfzig Jahre in Notunterkünften abwarten wollen; Ältere, die weniger Lebenszeit zu verlieren haben, kehren, Verbot hin oder her, in ihre Häuser zurück. Sie können immer noch hoffen, an etwas anderem zu sterben als am Strahlenkrebs. Ich wäre, mit meinem Jahrgang, für längeren Aufenthalt in der Sperrzone ebenfalls qualifiziert. Man schreit nicht mehr «Wolf», wenn er vor der Tür steht. Ich lerne mich an die Tatsache gewöhnen, daß meine Frist gemessen ist.
    5
    Nach der Heimkehr ins energiepolitisch hochbewegte Europa sollte ich in Tallinn auf einem Kongreß reden, der dem Brückenschlag im neuen EU-Europa gewidmet war, zwischen «alten» und «neuen» Ländern, deren Verständigung zu wünschen übrigläßt. Ich verschrieb mir eine Auszeit von der Agenda, um die Fährten aufzunehmen, die mich vom Zürcher Astronomen zum russischen Kapitän geführt hatten, und suchte Rasik, das Gut Hermann Ludwig von Löwensterns (1777–1836), des unverblümten Protokollanten der ersten russischen Weltumsegelung.
    Ich kenne zwei Porträts von ihm. Das erste zeigt einen jugendlichen Gentleman in der Uniform eines Seeoffiziers, der sorglos in die Welt zu blicken scheint. Sein Ausdruck ist der eines guten, doch nicht nur braven Jungen, mit einem Hauch von Dandy; die Züge sind aus weichem Stoff, man weiß noch nicht, was aus diesem Gesicht wird, wenn es der unfeine Griffel der Erfahrung gezeichnet hat. Sein weißblondes Haar, mit wehender Tolle, ist nach vorn gekämmt, nach jakobinischer Mode; der weiße Kragen, mit steifem roten Aufschlag verstärkt, hat die Höhe einer Nackenstütze. Eine sensible, doch nicht leidenschaftliche Natur; man traut ihm nicht zu, daß er dicke Stricke zerreißt. Vielleicht hatte erauf der
Nadeschda
seine
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