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Loewenstern

Loewenstern

Titel: Loewenstern
Autoren: Adolf Muschg
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beste Zeit, wenn sie nicht schon hinter ihm lag, auf seinen Wander- und Irrjahren auf dem Mittelmeer, von Neapel bis Istanbul, wo er fast Muslim geworden wäre. Aber schon vor der Weltumsegelung, und als ihr Teilnehmer erst recht, war er sich wichtig genug, Buch darüber zu führen, gewissenhaft, aber in lockerem Stil; Orthographie kümmerte ihn nicht.
    Das zweite Bild, eine Miniatur, zeigt dasselbe Gesicht vielleicht zwanzig Jahre später, deutlicher gezeichnet, aber leicht verrutscht und gequollen wie ein Teig, der auseinander-, doch nicht aufgegangen ist. Die starke Röte deutet auf Bluthochdruck oder Alkohol, die Vergißmeinnichtaugen blicken matt, der Bart, den es jetzt gibt, wirkt eher melancholisch als martialisch. Dieser Mann
hängt
, und sagt uns nicht mehr, worin; denn er hat aufgehört, Tagebuch zu führen, als wäre es nicht mehr der Mühe wert. Er hat sein Gut Rasik, aber froh macht es ihn nicht.
    Jetzt heißt es Raasiku, und ich wollte es mit eigenen Augen sehen.
    6
    Das Hotel hatte einen Wagen mit verdunkelten Scheiben besorgt und einen Fahrer, der mich in gutem Englisch ansprach, aber dankbar schien, wenn sich die Verständigung aufs Notwendigste beschränkte. Es war, inmitten einer Regenperiode, der erste helle Maitag; wir fuhren durch die Plattenbausiedlung einer Vorstadt, hinter der die Ostsee zu ahnen war. Ein Stück Autobahn sah so aus, als führe man darauf wirklich nach Petersburg weiter, aber dann bogen wir ab, in weit offenes Land unter einem großen Wolkenhimmel, und fuhren durch eine flache Gegend, deren unauffällige Erhebungen durchsichtig bewaldet waren. Die weitgespannten Felder zeigten noch kein Grün, dasjenige der Wiesen wirkte matt. Die verstreuten Häuser setzten kaum Zeichen. Klein und bunt, meist einstöckige Bungalows, wirkten sie wie Fertigfabrikate, Datschen in einem weitläufigen Schrebergelände, das hie und da etwas Parkartiges annahm oder an einen Golfplatz denken ließ. Im offenen Feld ein Ortsschild «Raasiku», aber es kam kein Ort; der Fahrer erklärte, es handle sich um den Namen des ganzen Bezirks oder der Grafschaft; immerhin waren wir jetzt in Löwensterns Revier. Aber die Streusiedlung verdichtete sich kaum, historische Gebäude zeigten sich nirgends, nur hie und da ein Betonblock mit der Aufschrift KONSUM, eine Spital- oderApothekenbaracke. Schließlich fuhren wir über eine Gleisanlage im leeren Land. Dies war der Bahnhof Raasiku.
    Wo war ein Bahnhof? Am Rand der Schienen, die sich schnurgerade in die Ferne zogen, stand nur ein kopflastiger Ziegelbau, das Stellwerk – oder ein Wasserturm? Rampen auf beiden Seiten, die gab es. Und einen Gedenkstein.
    Hatte ich etwa gar nicht hierhergewollt?
    Der Stein erinnerte an Transporte aus dem KZ Theresienstadt. Raasiku war ein Umschlagplatz der Vernichtung gewesen, für Frankfurter und Berliner Juden, die hier in Busse umgeladen und in Sammellager verfrachtet wurden. Das las ich nachträglich im Netz; der Fahrer aber hatte mich offenbar als Gedächtnistouristen gesehen. Ich kam mir wie ein Querulant vor, als ich auf einem
älteren
Raasiku bestand. Er mußte aussteigen und nachfragen und erhielt immer dieselbe Antwort: ein Gut gebe es hier nicht. Waren in der Sowjetzeit womöglich alle Gutshöfe abgerissen worden? Schließlich trafen wir auf eine Kirche mit Spitzturm; sie war mir schon als Google-
Image
begegnet, aber konnte nicht älter sein als hundert Jahre. Es war nicht mehr das St. Johannis, in dem Hermann Ludwig, der vierte Sohn, auf den Namen seines Vaters getauft worden war. Daneben gärtnerte ein Mann, der sie mir öffnete: ein evangelischer Kirchenraum, mit Bibelsprüchen in deutscher Fraktur, weiß gestrichen und durchdringend leer, teilweise eine Baustelle. Der letzte Eintrag im Gästebuch war drei Jahre her. Ob mein freundlicher Begleiter hier Pastor sei? Nein,
Diakon.
Der Pastor komme nur alle paar Wochen für einen Gottesdienst vorbei. Das alte Gut Rasik gebe es nicht mehr. – Ob er wenigstens die Stelle zeigen könne? Ich war dankbar, als er zustieg. Erst mußten wir noch den alten Friedhof besuchen, aber so viele rostige Eisenkreuze wir abschritten: auch unter den ältesten, deutsch beschrifteten lautete keins auf den Namen Löwenstern.
    7
    Schließlich landeten wir vor einem mit Buschwerk überwucherten und jungen Bäumen bestandenen Hügel an der Straße. Was ich sah, war ein kleines Ladengeschäft, aufgelassen und verstaubt; erst auf den zweiten Blick stellte ich fest, daß es der An- oder Einbau einer
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