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Loewenstern

Loewenstern

Titel: Loewenstern
Autoren: Adolf Muschg
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Nachbargüter besucht, sich zur Jagd versammelt oder zum Glücksspiel, hatte Bälle veranstaltet, Leseabende, Hauskonzerte. Aber trotz der nahen «Kulturhauptstadt Europas» würde diese Hülle nicht so bald wiederbelebt werden. Fast-food-Buden, Garagen, eine Minigolfanlage, ein
Hangout
für Camper, eine Rotlicht-Ranch mit karibischem Dekor. Ein amerikanischer Historiker hat diese Gegend neu getauft:
Bloodlands
; in ihnen enden die Wetten, wer das meiste Blut verschuldet, wer das meiste gelassen hat. Der Bahnhof von Raasiku, über den man von Tallinn bis Petersburg fahren kann, wirkt immer noch wie ein totes Gleis. Er wird ferngesteuert, als wäre er für Menschen nicht mehr zu betreten. Die Rampen sind geblieben.
    Ich habe den Text Löwensterns ohne weitere Zwischenfälle nach Hause gebracht und wieder in einen Tresor eingeschlossen – ich hoffe, der Luftschutzraum ist sicher genug, den die Vorschriften noch 1991, als mein Atelier errichtet wurde, für jeden Neubau verlangten. Ich habe zwei Kopien hergestellt. Ein paar Blätter begleiten mich auf jede Reise, und in manchem Vertreterhotel des In- und Auslandes habe ich Vormittage mit der Transkription von Löwensterns Handschrift auf meinen Rechner verbracht und mich in seiner Sphäre akklimatisiert, statt Bekannte zu treffen oder eine Stadt zu besichtigen. In die Kopien kann ich auch Seitenzahlen eintragen, die im Original fehlen, und mir Notizen zur Datierung machen; denn diese hat ihre Tücken.
    11
    Bisher hatte man angenommen, Löwenstern habe das Tagebuch auf Krusensterns Weltumsegelung nur für sich selbst geführt. Aus dem neuentdeckten Manuskript scheint aber hervorzugehen, daß er im Dienst einer nie mit Namen, nur als «Exzellenz» angeredeten hochgestellten Person stand, die ihn als Informanten auf die
Nadeschda
plazierte und ihm später eine Fortsetzung seiner prekär gewordenen Existenz ermöglichte. Viele Indizien deuten auf Peter Ludwig Graf von der Pahlen (1745–1825), der unter Katharina der Großen militärisch und diplomatisch Karriere gemacht hatte. Unter ihrem Sohn Paul I. war Pahlen abwechselnd in Ungnade gefallen und in höchste Staatsämter zurückgerufenworden. Als Militärgouverneur von Petersburg bereitete er mit Umsicht die Beseitigung des Zaren und die Inthronisierung seines Sohnes Alexander I. vor, von dem er dann nach dem Machtwechsel 1801 entlassen wurde.
    Für eine direkte Verbindung Pahlens zu Löwenstern habe ich allerdings keinen Beleg gefunden. Gewiß gehörten die graue Eminenz und der kleine Seeoffizier gesellschaftlich verschiedenen Welten an, doch sie haben auch viel gemeinsam. Das livländische Ritterregister verzeichnet ihre Familien in derselben Klasse, denn beide Stämme hatten schwedische Wurzeln. Beide sprachen und schrieben das Deutsch ihres Landsmanns Johann Gottfried Herder, das heißt, sie waren eher völkerkundlich interessierte Kosmopoliten als national gesinnte Russen. Von Löwenstern ist bekannt, daß er das Russische nicht viel besser beherrschte als das Estnische der sogenannten «Undeutschen», das ihm im Verkehr mit seinen Dienstboten nötig war. Ohnehin sprach die Oberschicht des Zarenreichs Französisch, und das Englische war Löwenstern auf seinen Wanderjahren zur See zur zweiten Muttersprache geworden. Daß er die liberalen Ideen teilte, die in dieser Sprache transportiert wurden, darf man aus der Subskription von
Cobbett’s Political Register
schließen, das im Rußland der Zensur nur schwarz nach Rasik kommen konnte und das er zum Gefäß seiner geheimsten Mitteilung machte. Pahlen und Löwenstern waren Freimaurer, wie übrigens auch Zar Alexander selbst – bis er aus Furcht vor Verschwörungen und unter dem Einfluß der frommen Frau von Krüdener geheimbündlerische Tätigkeit verbot. Doch Löwenstern verkehrt mit seinem «Paten» in einer Vertraulichkeit, zu der ihn gewiß keine maurerische Brüderschaft berechtigte, sondern ein Auftrag, der in seinen Papieren nur in Umrissen erscheint – und dessen Dunkelheit auffallend mit der oft halsbrecherischen Offenherzigkeit des Verfassers kontrastiert. Könnte es sein, daß ihm auch die Narrenkappe als Tarnkappe diente? Löwensterns Manuskript wurde in einer englischen Zeitschrift versteckt, auf der das Etikett 1826 steht. 1825 ist auch Peter Ludwig Graf von der Pahlen auf seinen Gütern in Kurland gestorben. Wenn er die Exzellenz der «Briefe» Löwensterns gewesen sein sollte, hätten sie keinen Adressaten mehr gehabt.
    1825 ist ein besonderes Datum
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