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Lockenkopf 1 - Warum weint man, wenn einem etwas gefällt?

Lockenkopf 1 - Warum weint man, wenn einem etwas gefällt?

Titel: Lockenkopf 1 - Warum weint man, wenn einem etwas gefällt?
Autoren: Ursula Essling
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frühe Pflaumen. Unsere sind noch nicht reif. Herr Braun verkauft einen Teil der Früchte in seinem Laden. Aus dem Rest macht seine Frau Pflaumenmus. Das hat sie jedenfalls erzählt. Das Pflaumenmus verkaufen sie aber nicht, das essen sie selbst. Herr Braun ist nämlich ganz wild auf Süßes, besonders, wenn es selbst gemacht ist.
    In diesem Jahr gibt es besonders viel Pflaumen. Sie hängen schwer und dunkelblau weit über den Zaun. Ich mache meistens sogar einen Umweg, wenn ich von Wolfs komme oder bei Gisi war, weil mich die Pflaumen so in Versuchung führen.
    Neulich abends aber konnte ich dieser Versuchung einfach nicht widerstehen. Meine Mutter war mit dem Fahrrad in der Stadt, um einzukaufen. In der Stadt gibt es nämlich mehr Läden, daher bekommt man die meisten Lebensmittel billiger. Es dämmerte schon und ich habe mich genau umgeschaut, die Straße war wie ausgestorben. Zum Glück hatte ich auch noch meinen blauen Rock mit den tiefen Taschen an, in denen nichts außer einem halb gekauten Kaugummi drin war. Der Zaun um Brauns Garten ist in Beton eingelassen, darauf kann man klettern und sich in den Maschen festhalten.
    Ich hab mich noch mal gründlich umgeguckt, niemand war zu sehen. Also rauf auf den Beton, mit der linken Hand hielt ich mich fest, die rechte hab ich nach der ersten Pflaume ausgestreckt. Zum Pflücken bin ich nicht gekommen. Mitten in der Bewegung hörte ich meine Mutter laut und deutlich sagen:
    „Ulrike, Du weißt doch, dass man so etwas nicht tut!“
    Vor Schreck bin ich mehr runtergefallen als gehüpft. Dann drehte ich mich nach Mama um, die ja per Fahrrad auf dem Nachhauseweg hier vorbeikam, beziehungsweise vorbeikommen musste.
    Kein Mensch war zu sehen!
    Da habe ich es mit der Angst bekommen und bin wie gehetzt nach Hause gerannt. Ohne eine einzige Pflaume!
    Meine Mutter war noch nicht zurück, nur Inge saß am Küchentisch und schrieb einen Brief. Auf meine Fragen meinte sie nur: „Du weißt doch, dass Mama einkaufen ist. Das dauert doch immer eine ganze Weile. Wenn Du Hunger hast, mach Dir ein Brot!“ Der war mir aber vergangen, sogar der Hunger auf Obst. Ich setzte mich erst mal und zergrübelte mir das Gehirn. Mama musste da gewesen sein, ich hatte sie doch überdeutlich gehört. Es war ihre Stimme, daran gab es nicht den geringsten Zweifel. Ob sie sich versteckt hatte und extra später heimkam? Aber das ist nicht ihre Art. Außerdem, wo hätte sie sich samt Fahrrad verstecken können?
    Eine knappe Stunde später kam sie, schwer bepackt, nach Hause. Sie strahlte übers ganze Gesicht: „Es ist so spät geworden, weil ich Tante Else getroffen habe. Wir haben zusammen noch einen Kaffee getrunken!“ Tante Else war eine alte Freundin von Mama. Wenn die beiden beim Kaffeeklatsch zusammensaßen, vergaßen sie die übrige Welt um sich her. Also konnte meine Mutter nicht wirklich bei Brauns Gartenzaun gewesen sein. Aber ich hatte ihre Stimme genauso gehört, wie eben jetzt, als sie beim Auspacken fröhlich schwatzte. Wurde ich langsam verrückt? Ich beschloss daher, Mamas gute Laune auszunutzen und erzählte ihr alles.
    „Du hast eine blühende Fantasie“, meinte meine Schwester. „Vielleicht hast Du so eine Angst gehabt, erwischt zu werden, dass daraus Halluzinationen geworden sind!“
    „Was sind Halluzinationen?“
    „Wenn man Dinge sieht und hört, die gar nicht vorhanden sind“, antwortete Mama. „Oje“, dachte ich, und machte sicher ein ganz dummes Gesicht dabei. „Aber“, fuhr meine Mutter fort, „ich glaube in diesem Fall nicht so sehr an eine Halluzination“.
    „Ich habe Dich doch genauso gehört, wie jetzt, dann muss es wohl doch so gewesen sein.“ Ich weinte fast.
    Mama wurde ganz still und sah mich dabei nachdenklich an. „Du hast mich auch ganz real gehört, Ulli, auch wenn ich körperlich nicht anwesend war. Du wusstest in Deinem Innern, dass das, was Du vorhattest, Diebstahl war. Und Du weißt ganz genau, wie ich darüber denke. Also hast Du mich gehört. Es war nichts anderes als Dein eigenes Gewissen, das Dich mit meiner Stimme ansprach.“ Inge meldete da natürlich Zweifel an. Ich wollte aber meiner Mutter glauben, denn eigentlich hat sie in wesentlichen Dingen immer recht.
    „Dann kann Ulli Dich aber nicht wirklich gehört haben. Mama, wenn das sozusagen die Stimme ihres Gewissens war, hat sie sich doch alles eingebildet!“
    „Warum denn nicht? Sehen wir etwa die Luft, die wir einatmen? Höchstens im Winter, wenn es sehr kalt ist, und doch ist sie
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