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Lockenkopf 1 - Warum weint man, wenn einem etwas gefällt?

Lockenkopf 1 - Warum weint man, wenn einem etwas gefällt?

Titel: Lockenkopf 1 - Warum weint man, wenn einem etwas gefällt?
Autoren: Ursula Essling
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hübsch. Auch dieses Gesicht kam mir bekannt vor. „Sie heiratete einen Studienrat in der Stadt und schenkte ihm neun Kinder!“ Herr Merkel blätterte weiter. „Hier, meine Mutter, eine geborene Martin. Sie und Rosalinde sind Schwestern gewesen …“
    Jetzt fiel´s mir wie Schuppen von den Augen. Martin! Daher das Mondgesicht. Es erinnerte mich an Peter Martin, das war’s. Und die Tante, die sah der Barbara so ähnlich. Ich platzte heraus: „Sind Sie mit den Martins aus der Kaiserstraße verwandt?“
    Die nichtvorhandenen Augenbrauen zogen sich zusammen, als mich Herr Merkel sehr genau fixierte. „Ja, leider!“
    Er schien mir ziemlich sauer zu sein. Ich stieß Rita unbemerkt an. Das war unser Zeichen. Sie deutete unbekümmert auf einen Herrn mit Zwicker und gestärkter Hemdbrust: „Wer ist denn das? Ist das nicht der berühmte Bahnbeamte, der sich so sehr um Kattenbach verdient gemacht hat?“ Herrn Merkels Miene glättete sich wieder, soweit sie sich bei seinen Runzeln glätten ließ.
    „Richtig, das war mein Onkel Philipp von der Merkelseite. Er hat sich in der Tat um Kattenbach verdient gemacht. Er hat den Turnverein ins Leben gerufen und sich in der Schädlingsbekämpfung der Schrebergärtner hervorgetan.“ Ehe er noch von weiteren Vorzügen des Onkels von der Merkelseite berichten konnte, ließ Rita einfließen. „Dass so ein Mann ein solches Ende nehmen musste …“
    „Ein solches Ende, allerdings“, echote Herr Merkel. „Verflixt, was wisst Ihr davon?“
    Ich krallte Rita ins Bein, sie trat mir auf den Fuß. Wir konnten’s vor Spannung kaum aushalten. Endlich, endlich waren wir am Ziel.
    Ich kritzelte in meinen Block, irgendwas. Den alten Leuten hatte ich erzählt, das wäre eine Kurzschrift, die wir speziell für unsere Zeitung entwickelt hätten, damit nur wir sie lesen könnten. Aber das war in Wirklichkeit nur Fantasiegekritzel, das ich auch nicht hätte lesen können. Schließlich ist das auch egal, denn wir brauchen es ja gar nicht für die Schülerzeitung, weil es keine gibt.
    „Ich habe gefragt, was Ihr von meinem Onkel wisst, dass Ihr so von seinem Ende reden könnt!“ Wir wussten darauf keine Antwort und drucksten herum. „Naja, es war halt so schrecklich, wie …“ Herr Merkel unterbrach mich: „Ich will auf keinen Fall, dass Ihr darüber schreibt, verstanden? Über das, was er alles für die Leute hier getan hat, könnt Ihr berichten, auch über mich und meine Eltern und Großeltern.“
    „Er konnte doch gar nichts dazu“, meinte Rita.
    „Natürlich konnte er nichts dazu“, schnauzte Herr Merkel. „Es liegt auch nicht in der Familie, aber genau das könnten die Leute meinen, falls Ihr das druckt!“
    „So was liegt doch nie in der Familie, und wenn, dann bestimmt sehr selten.“ Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass mehrere Familienmitglieder unschuldig geköpft werden. Außer natürlich in der Französischen Revolution, und das ist noch länger her.
    Jetzt waren wir an der Quelle und das musste genutzt werden. Also sagte ich ganz ruhig: „Am besten erzählen Sie uns mal, wie es wirklich passiert ist, Herr Merkel. Sie wissen, die Leute reden halt und was morgens noch ein Bällchen ist, hat sich am Nachmittag zu einem Wasserball ausgewachsen.“ Ich kam mir bei dieser Rede ungeheuer erwachsen vor. So ähnlich habe ich nämlich meine Mutter sprechen hören. Es ist manchmal ganz gut, wenn man zuhört, auch wenn man nicht selbst angesprochen wird.
    Herr Merkel schrie so plötzlich, dass wir beide unwillkürlich zusammenzuckten: „Soll ich es Ihnen erzählen?“ Er meinte Sieglinde!
    „Hm!“
    „Na gut, also, es fing alles mit den Schädlingen an.“
    „Der Streit? Nicht mit dem Mädchen?“
    „Was für ein Streit? Mein Onkel war ein äußerst friedfertiger Mensch!“
    „Nichts, ich dachte …!“
    „Denken soll man den Pferden überlassen, die haben einen größeren Kopf! Also, wie gesagt, die Schädlinge …, er hat sich doch so dafür eingesetzt, die Schädlinge zu bekämpfen. Er hatte auch viel Erfolg damit. Die Schrebergärtner waren ihm wirklich dankbar. Aber als es dann keine Schädlinge in den Gärten mehr gab, da …, na, da fehlte ihm halt was. Da fehlte ihm eben etwas, das er bekämpfen konnte.“
    „Und deshalb hat er sich mit seinem Freund verkracht?“
    „Wieso mit seinem Freund? Mit sich selbst!“ Er erntete gerade Bohnen, da kam er zum ersten Mal zu der Erkenntnis, dass der größte Schädling des Gartens der Mensch sei. Also er selbst.
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