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Lockenkopf 1 - Warum weint man, wenn einem etwas gefällt?

Lockenkopf 1 - Warum weint man, wenn einem etwas gefällt?

Titel: Lockenkopf 1 - Warum weint man, wenn einem etwas gefällt?
Autoren: Ursula Essling
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Warum fragst Du nicht?
    Auf einem Hofgut in der Wetterau, Herbst 1946.
    Papa stand vor dem Spiegel und rasierte sich. Er rasierte sich gern; denn dann musste er in den Spiegel gucken und Mama konnte ihm seine Eitelkeit nicht vorwerfen. Der Spiegel war klein und rund und hing an der Tür.
    Außer dem Spiegel hatten wir noch ein richtiges Bett mit weiß gestrichenen eisernen Pfosten und eine Pritsche aus geflochtenem Schilf. In das schmale Zimmer, das eigentlich ein Flur war, ging noch ein Stuhl rein und ein kleines Waschbecken. Wollte einer von uns mal ans Fenster gehen, musste ein anderer, der vielleicht rumstand, sich aufs Bett oder die dahinter aufgestellte Pritsche setzen. Das Fenster ging zu dem mit Kopfsteinen gepflasterten Hof hinaus. Hier war immer was los. Frauen unterhielten sich von Fenster zu Fenster oder hingen Wäsche im Hof auf. Es gab auch eine Menge Kinder; denn das Haus war ein Gutshaus und es wohnten viele Familien darin.
    Papa seifte sich ein. Dann nahm er das Rasiermesser und schabte sorgfältig seine Stoppeln ab. Ich saß auf dem Bett und schaute dieser Prozedur interessiert zu. Immer wieder tauchte er das Rasiermesser in die henkellose Tasse mit Wasser.
    Plötzlich sagte er: „Wir ziehen nach Kattenbach!“ Das sagte er einfach so. „Freust Du Dich, Ulli? Wir bekommen dort eine richtige Wohnung mit zwei Zimmern. Und Mama hat eine Küche und Inge kriegt ein Bett ganz für sich allein!“
    Papa hatte seine Rasur beendet und widmete sich nun seinen Locken. Das heißt, er machte seinen Kamm nass und drückte und kämmte seine Haare so lange, bis er einige Wellen auf seinem Kopf hatte. Das nannte er dann Locken. Er behauptet auch, dass ich meine Locken von ihm hätte. Aber ich drehe meine Haare nie so in Formen und trotzdem sind sie ganz kraus. Wenn es allerdings stimmt, dass ich die Locken von ihm habe, kann er sie gerne wiederhaben. Dann hätte er morgens nicht so viel Arbeit und ich hätte so schöne Zöpfe wie meine Schwester Inge.
    Meine Haare wachsen auch nicht wie bei anderen Kindern. Wenn sie wirklich länger werden, ringeln sie sich noch mehr zusammen. Immer ziept es beim Kämmen. Aber die Erwachsenen haben kein Verständnis, sie wissen ja nicht, was ich dabei immer durchmachen muss. Nein, sie streichen mir über den Kopf und sagen: „Was hast Du für schöne Locken. Gibst Du sie mir?“ Oder: „Du hast es gut, Du brauchst nie zum Friseur zu gehen, um Dir teure Dauerwellen machen zu lassen.“ Ich kann das nicht leiden, die Großen tun immer so. Auch angefasst werden kann ich nicht leiden.
    Nur von Mama will ich angefasst und auf den Schoß genommen werden. Das ist kuschlig und weich und Medizin, wenn ich hingefallen bin. Von Papa mag ich das manchmal auch. Aber andere Leute meinen immer, sie tun einem einen Gefallen, wenn sie so unnatürlich mit mir reden. Dabei ist ein Kind ja auch ein Mensch und versteht die Erwachsenen auch oft, wenn sie sich untereinander unterhalten.
    Ich gebe ja zu, dass Kinder nicht immer alles verstehen. Die Großen verwenden oft so komische Wörter. Wenn ich dann frage, was das heißen soll, heißt es immer: „Das verstehst Du noch nicht.“ Aber wenn ich sage: „Das verstehe ich nicht“, sagen die Erwachsenen: „Warum fragst Du nicht?“ Und das kapiere ich einfach nicht.
    „Ich habe Dich gefragt, ob Du Dich freust, Ulrike!“ Oje, Papa hat meinen Namen ganz ausgesprochen, das heißt, er verliert die Geduld. Ich weiß aber nicht, was ich ihm antworten soll. Also sage ich: „Ich weiß es nicht.“
    „Du weißt es nicht?“ Er hat sich neben mich gesetzt und nimmt mich in den Arm. Heute ist er kuschlig und riecht nach dem Rasierzeug. Das mag ich. „Denk doch mal, wir haben dann Platz und ich hab’s nicht mehr so weit zur Arbeit. Bin also früher zu Hause und nicht erst, wenn Du im Bett bist.“
    Eigentlich finde ich gerade das ganz gut, dass Papa immer erst heimkommt, wenn ich schon im Bett liege. Dann kann er nämlich nicht mehr schimpfen, nachdem ihm Mama erzählt hat, was ich wieder angestellt habe. Aber das kann ich ihm nicht sagen. Ich denke auch an Peter und die Stolle-Minna. Die ziehen sicher nicht nach Kattenbach. Das sage ich ihm. Da lacht Papa: „Aber Ulli, willst Du lieber bei der Stolle-Minna bleiben, oder bei Mama, mir und Inge?“
    „Natürlich bei Euch!“ Aber ganz so überzeugt bin ich eigentlich nicht. Die Stolle-Minna hat einen Laden und einen riesigen Busen. Und wenn Peter und ich zu ihr kommen, gibt sie uns immer ein Bonbon.
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