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Lob der Grenze - Kritik der politischen Unterscheidungskraft

Lob der Grenze - Kritik der politischen Unterscheidungskraft

Titel: Lob der Grenze - Kritik der politischen Unterscheidungskraft
Autoren: Paul-Zsolnay-Verlag
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weil aller lebensweltlichen Kontinuität enthoben, wird dies im Kunstwerk. Jedes Kunstwerk, so könnte man pointiert formulieren, stellt selbst ein Spiel mit den Kategorien von Anfang und Ende dar. Alle Rede von Anfängen und Enden im Leben ließe sich vielleicht als der Kunst entlehnte Metaphorik deuten. Warum?
    Entscheidend am Beginnen ist, ob etwas daraus werden wird. In der Kunst ist dieses Moment eines Anfangens, aus dem etwas werden wird, ein wesentlicher Bestandteil jedes Mythos von Kreativität – in affirmativer und kritischer Hinsicht. Anfang kann in der Kunst zweierlei bedeuten: der Moment, in dem der Künstler anfängt, ein Werk hervorzubringen; und der Anfang, mit dem ein Werk tatsächlich anfängt. Beides ist nicht identisch. Das Anfangen des Künstlers und die Legenden, mit denen er dieses Anfangen beschreibt und glorifiziert, zehren allerdings in hohem Maße von den Anfangsmöglichkeiten der Werke. Nebenbei: Gemessen an dem Pathos, mit denen Künstler ihr Anfangen beschreiben – das weiße Blatt Papier, die weiße Leinwand oder der leere Raum als mythische Gegebenheiten, die den Anfang geradezu quälend provozieren, dann die Rekonstruktion der ersten Idee, die Keimzellen eines Werkes, die ersten Fassungen, die ersten Pläne, der erste Entwurf –, ist der absolute Schöpfungsakt der Genesis eine geradezu bescheidene und lakonische Geste gewesen. Aber auch das Anfangen des Künstlers leidet unter allem menschlichen Anfangen: Es lässt sich nicht genau lokalisieren. Wann begann Mozart zu komponieren, Goethe zu dichten, Raffael zu malen? Und es gibt keine Gewähr, dass aus dem Anfang auch etwas wird. Gerade in der Kunst wird eine Dimension des Anfangs deutlich sichtbar, die ansonsten verlorengeht: Erst wenn etwas geworden ist, lohnt es sich, von einem Anfang zu sprechen. Dort, wo nach einem Anfang nichts mehr weitergeht, gab es letztlich keinen Anfang. Ein Anfang, der im Anfangen steckenbleibt, ist kein Anfang. Denn es wurde damit offenbar nichts angefangen. Die Gestrandeten, Gescheiterten, Missverstandenen, Missachteten, Benachteiligten, deren Anfang nie über den Anfang hinausgekommen ist und deshalb kein Anfang war, sind wohl nicht nur in der Kunst bei weitem in der Mehrheit. Nur dort, wo dem Anfang noch etwas folgt, gibt es einen Anfang. Der Anfang, so paradox dies auch klingen mag, ist durch das Ende definiert.
    Das Entscheidende an diesen ästhetischen Anfängen ist, dass jederzeit Klarheit über den Anfang herrscht. Die Differenz von Kunst und Leben selbst ermöglicht es, gegenüber den unendlichen Verwicklungen der Natur einen Anfang und damit das Zeichen der Differenz zu setzen. Wir wissen in der Regel, wann wir das Gespräch mit unserer Begleitung einzustellen haben, weil eine Tragödie, eine Symphonie, eine Oper, der Hauptfilm, eine Performance, eine Aufführung oder eine Lesung beginnt. Und auch die etwas kindliche Attitüde avantgardistischer Künstler, uns über dieses Beginnen im Unklaren zu lassen, lebt davon, dass wir in der Regel Bescheid darüber wissen, dass nun etwas anderes als das Leben anheben wird.
    In den Zeitkünsten ist der Anfang klar zu bestimmen: Jetzt beginnt es. Man kann auch die Uhrzeit des Beginns angeben. In den bildenden Künsten ist es nicht so einfach, aber der Anfang als Zeichen der Differenz hat auch eine räumliche Komponente: Es ist die Grenze selbst. Wer ein Museum betritt, weiß: Jetzt beginnt ein anderer Raum mit anderen Gesetzen. Georg Simmel hat in einem kleinen Essay einmal den Bilderrahmen als Symbol für diese Grenze gedeutet: Diesseits des Rahmens bewegen wir uns in der Welt; jenseits davon beginnt die Kunst. Simmels Essay beginnt mit folgenden Bestimmungen: »Indem das Kunstwerk ist, was sonst nur die Welt als ganze oder die Seele sein kann: eine Einheit aus Einzelheiten – schließt es sich, als eine Welt für sich, gegen alles ihm Äußere ab.« 11 Das bedeutet nun nicht eine idealistische Überhöhung des Kunstwerks, wohl aber die Einsicht, dass an Kunstwerken eine ästhetisch-logische Immanenz fasziniert, die gerade die Problematisierung ihres Verhältnisses zur Welt erst erlaubt. Der Bildrahmen, so Simmel, unterstreicht diesen Sachverhalt und gibt ihm eine symbolische Form. Der Bildrahmen »schließt alle Umgebung und also auch den Betrachter vom Kunstwerk aus und hilft dadurch, es in die Distanz zu stellen, in der allein es ästhetisch genießbar wird«. 12 Keine ästhetische Wahrnehmung ohne Distanz, keine ästhetische Gegenstandskonstitution
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