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Lob der Grenze - Kritik der politischen Unterscheidungskraft

Lob der Grenze - Kritik der politischen Unterscheidungskraft

Titel: Lob der Grenze - Kritik der politischen Unterscheidungskraft
Autoren: Paul-Zsolnay-Verlag
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ohne Rahmen, keine Kunsterfahrung ohne Wissen, wo die Kunst beginnt und wo sie endet. Der Rahmen markiert diese Grenze, den Anfang des Werks, der in diesem besonderen Fall mit seinem Ende zusammenfällt. Jenseits des Rahmens ist alles anders. Hier eine Grenze überschreiten oder überhaupt zum Verschwinden bringen zu wollen, hieße das Werk zerstören. Wohl stimmt es: Grenzen schließen ein, und Grenzen schließen aus. Aber erst diese Grenzen lassen etwas in seinem So-Sein gewähren. Der Bildrahmen symbolisiert diese Dialektik. Gleichzeitig lässt sich ein nicht unbeträchtlicher Teil avantgardistischer Anstrengungen als Versuch deuten, diese Grenze, diese Einheit von Anfang und Ende in den bildenden Künsten, zu verwischen oder zu konterkarieren. Wo endet das soziale, politische und moralische Leben, und wo beginnt die künstlerische Veranstaltung? Von dieser Möglichkeit, zu beginnen, ohne anzufangen, lebte nicht nur der Wiener Aktionismus, sondern zehren auch Performances aller Art.
    Letztlich steht hinter all dem die Frage nach einer grundlegenderen Grenze, nach einer grundlegenden Variante des künstlerischen Beginnens: Wo endet die Natur und beginnt die Kunst? Für Simmel war klar, dass der Anfang durch den künstlerischen Akt selbst gesetzt wird, während die Natur prinzipiell unabschließbar ist. Simmel konnte deshalb schreiben: »Der Rahmen schickt sich nur für Gebilde von abgeschlossener Einheit, wie sie ein Stück Natur niemals hat.« 13 Fraglos gebraucht Simmel eine interessante Ausdrucksweise: Es schickt sich nicht, Natur, die ihrem Wesen nach ja unendlich ist, in einen Rahmen zu pressen. Natur, die in sich keinen Anfang und kein Ende kennt, kann kein Gegenstand legitimer ästhetischer Betrachtung sein. Sie zu einem solchen zu machen, also mit einem Rahmen zu versehen, kommt einem gewaltsamen Akt gleich, den Simmel schon bei den einfachsten Versuchen, sich Natur ästhetisch zu vergegenständlichen, verspürte: bei der Fotografie.
    Von da ließe sich leicht ein Bogen zu jenen Formen ästhetischer Vergegenwärtigung von Natur, wie sie heute geübt werden, spannen: zu den Naturparks, den Aussichtspunkten, der Reproduktion von Naturausschnitten. Die Ästhetisierung unmittelbarer Natur, nicht deren Transformation in ein Kunstwerk, zum Beispiel in ein Landschaftsgemälde, müsste, gibt man Simmel recht, als etwas der Natur Aufgezwungenes, Äußerliches erscheinen, das auch den ästhetischen Sinn des Naturliebhabers nicht so recht zu befriedigen weiß. »An dem Stück Natur, das wir instinktiv als bloßen Teil in dem Zusammenhange eines großen Ganzen fühlen, ist deshalb der Rahmen in demselben Maße widerspruchsvoll und gewalttätig, in dem das innere Lebensprinzip des Kunstwerks ihn verträgt und fordert.« 14 Jede aktuelle Diskussion des Naturschönen hätte diese Problematik zu vergegenwärtigen: dass wir Natur, als ästhetisches Objekt betrachtet, damit gegen ihr Wesen in einen Rahmen zwängen, auch wenn sich dieser Rahmen nicht direkt als Grenze, zum Beispiel als Zaun eines Nationalparks, zu erkennen gibt, sondern gleichsam imaginär unseren Blick auf Berge, Seen, Wälder und Auen strukturiert. So widersprüchlich die Idee einer natürlichen Grenze ist, so widersprüchlich ist es, Teile der Natur als ästhetische Objekte zu isolieren. Und dennoch kann es sein, dass bestimmte Erscheinungsformen der Natur nur bewahrt und gerettet werden können, indem der Mensch durch eine Handlung einen Anfang und damit eine Grenze setzt und markiert: Hier beginnt ein Naturpark, eine Schutzzone, ein Biotop.
    Das Kunstwerk hat einen Anfang, weil es ein Ende hat. Im Rahmen fallen diese Bestimmungen zusammen. In den Zeitkünsten korrespondieren sie über eine zeitliche Distanz hinweg: Der Vorhang hebt sich, wenige Stunden später senkt er sich. Das Ende gibt dem Werk seine Geschlossenheit und bestätigt so den Anfang als Anfang. Ein endloses Kunstwerk wäre ein Horror und als solches nicht mehr wahrnehmbar. Anfang und Ende verweisen im Kunstwerk notwendig aufeinander, was wir in einem geglückten Leben uns nur wünschen können, kann im Kunstwerk gestaltet werden. Misslingt diese Korrespondenz zwischen Anfang und Ende, zwischen Beginn und Schluss, empfinden wir dies auch mit Recht als ästhetisches Ungenügen. Das Buch beginnt dann schwach, aber der Autor kann sich noch steigern. Oder: Ein Film startet fulminant, doch mit Fortdauer der Handlung wird es immer verwirrender. Sofern ein Werk allerdings gelungen ist, lässt sich
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