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Lob der Grenze - Kritik der politischen Unterscheidungskraft

Lob der Grenze - Kritik der politischen Unterscheidungskraft

Titel: Lob der Grenze - Kritik der politischen Unterscheidungskraft
Autoren: Paul-Zsolnay-Verlag
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Zusammenhang der Satz von Jean Monnet zitiert, dass er, könnte er Europa noch einmal bauen, nicht mit der Ökonomie, sondern mit der Kultur begänne. Abgesehen davon, dass es bei dieser Herangehensweise wahrscheinlich keine EU gegeben hätte, sollte man überhaupt die auf Emotion, Identität und Identifikation, letztlich auf die Idee der Gemeinschaft der Europäer setzende Rhetorik mit einer gewissen Vorsicht betrachten.
    Zumindest im deutschen Sprachgebrauch weist der Begriff der Gemeinschaft durchaus ambivalente Konnotationen auf. Wir kennen die Dorfgemeinschaft und die Schicksalsgemeinschaft, die Religionsgemeinschaft und die Gemeinschaft der Heiligen, die Volksgemeinschaft und die Solidargemeinschaft, aber keine dieser Gemeinschaften dürfte ein tragfähiges Modell für Europa abgeben: auch nicht die Wertegemeinschaft. Was aber ist überhaupt eine Gemeinschaft?
    In seiner begriffsbildenden Schrift Gemeinschaft und Gesellschaft aus dem Jahre 1887 hat einer der Väter der modernen Soziologie, Ferdinand Tönnies, versucht, in der Gemeinschaft eine Form des Zusammenlebens zu beschreiben, die sich deutlich von dem abhebt, was er die »Gesellschaft« nannte. Unter »Gemeinschaft« verstand Tönnies eine Form des Miteinander von Menschen, die sich gleichsam organisch aus der Grundtatsache des Lebens selbst entwickelt: aus der unhintergehbaren Voraussetzung, dass wir alle – bisher zumindest – geboren worden sind. Geburt und die damit zusammenhängenden Kategorien Abstammung, Geschlecht und Familie bilden die materielle Basis für Tönnies’ Konzept der Gemeinschaft, die er noch ohne Scheu eine »Gemeinschaft des Blutes« nennen konnte. 71 Daneben lässt Tönnies nur noch die Gemeinschaft des Ortes gelten, das Leben und Zusammenleben in einem Dorf oder auch in einer Stadt, allerdings nur insofern diese als großes Dorf beziehungsweise als eine Agglomeration von Dörfern verstanden wird. Und dann kennt Tönnies noch die Gemeinschaft des Geistes, also einen Verbund von Menschen, die eine Idee, eine Vorstellung, eine Mission teilen.
    All diesen Erscheinungsformen von Gemeinschaft ist eines gemeinsam: Die Kommunikation ihrer Mitglieder erfolgt nicht über Vereinbarungen, Tauschakte oder Verträge, sondern durch ein – im Idealfall – stillschweigendes Verständnis: »Verständnis ist demnach der einfachste Ausdruck für das innere Wesen und die Wahrheit allen echten Zusammenlebens, Zusammenwohnens und -wirkens. […] Aber Verständnis ist ihrem (sic!) Wesen nach schweigend, weil ihr Inhalt unaussprechlich, unendlich, unbegreiflich ist.« 72 Wer in einer Gemeinschaft lebt, weiß immer schon, worum es geht. Gemeinschaften müssen sich ihren Mitgliedern nicht ständig erklären, funktionierende Gemeinschaften müssen auch nicht ständig beschworen werden. In Gemeinschaften bilden das Gefühl der Zugehörigkeit und das Wissen, worum es der Gemeinschaft geht, eine Einheit. Das gilt für Familien und Clans genauso wie für Religionsgemeinschaften.
    Voraussetzung dieser Gemeinschaft des Verstehens ist die gemeinsame Sprache, die das schweigende Einverständnis überhaupt erst ermöglicht. Nur dort, wo keine Übersetzungsleistungen vonnöten sind, kann auch geschwiegen werden. Das nonverbale Element der Kommunikation in der Gemeinschaft kann auch deshalb solch eine große Bedeutung erlangen, weil Zeichen und Gesten in eindeutiger Weise im Kontext einer Sprach- und Verstehensgemeinschaft gedeutet werden können. Der gemeinsame Sinn, Brauch und Glaube, Rituale und Feste realisieren diesen Prozess.
    In größeren Organisationsformen des Zusammenlebens – wie in der Stadt – konnte Tönnies dann in der Religion, vor allem aber in der Kunst die ausdifferenzierten und urbanen Formen solch eines gemeinschaftlichen Miteinander erkennen. Kunst vor allem deshalb, weil sich im urbanen Raum diese in erster Linie als die Art und Weise etabliert, wie der öffentliche, also gemeinschaftlich genutzte Raum gestaltet und sinnfällig präsentiert wird. Architektur, Fassaden, Denkmäler, Plätze bestimmen bis heute das Lebensgefühl von Menschen, die trotz unterschiedlichster Herkunft und sozialer Lage das Gefühl teilen können, an einem gemeinsamen Ort zu leben. Dieses, in Großstädten und Metropolen wohl nur mehr sehr schwach ausgeprägte Gefühl ist allerdings an die unmittelbare sinnliche Präsenz und ihre Erfahrungsmöglichkeiten gebunden und kann deshalb nicht endlos ausgedehnt oder transferiert werden. In einer Stadt, in der man nicht
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