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Lob der Grenze - Kritik der politischen Unterscheidungskraft

Lob der Grenze - Kritik der politischen Unterscheidungskraft

Titel: Lob der Grenze - Kritik der politischen Unterscheidungskraft
Autoren: Paul-Zsolnay-Verlag
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das von ihm sagen, was uns Sterblichen in der Regel verwehrt bleibt: Es ist kein Werden, sondern es ist etwas geworden. Und dies ist doch auch das Tröstliche an dieser Art des menschlichen Anfangens: Wir wissen im Moment unseres anfänglichen Tuns nicht, was wir damit eigentlich begonnen haben werden.

 
    Der offene Kontinent
    An den Grenzen Europas
     
     
    Eine fließende Grenze zwischen Rettung und Gefahr: Ließe sich das europäische Projekt nicht trefflich durch diese Formulierung beschreiben? Nirgendwo lässt sich zurzeit das Wechselspiel von Grenzaufhebung, Grenzüberschreitung und Grenzziehung so gut studieren wie an Europa. Das Projekt der EU lebt in hohem Maße vom Pathos der fallenden Grenzen, andererseits wird allmählich deutlich, dass dieses Projekt nur eine politische Zukunft hat, wenn Grenzen gezogen werden. Die Bedeutungslosigkeit alter europäischer Binnengrenzen korrespondiert so nachdrücklich mit der für viele unüberwindlichen Schranke, die durch die Schengen-Grenze aufgerichtet ist. Der Zusammenhang zwischen einer Begriffsbestimmung im spinozistischen Sinne und den politischen Perspektiven zeigt sich dabei ganz deutlich. Wer immer eine Antwort auf die Frage nach der Identität Europas geben will, kommt nicht umhin, anzugeben, was Europa nicht ist. Auch wenn es nicht nur um die Grenzen eines Territoriums geht, sondern eben auch um die Grenzen eines Selbstverständnisses, wird von einer europäischen Identität nicht gesprochen werden können, solange nicht klar ist, warum und in welcher Weise das Europäische im Osten des Kontinents, im Vorderen Orient, im Mittelmeer und am Atlantik seine Grenze findet und finden muss. Da es keine geografischen, kulturellen oder ethnischen Grenzen Europas gibt, die von vornherein feststünden, und da das, was gerne als Wurzel und Ausdruck der Eigenart Europas gesehen wird – die griechisch-römische Antike, das Christentum und die Aufklärung beziehungsweise das davon abgeleitete Insistieren auf Freiheit, Menschenwürde und Menschenrechte –, entweder obsolet erscheint oder selbst universalisiert worden ist, ist die Frage nach den Grenzen und damit nach der Identität Europas selbst nur über eine politische Willensbildung zu erreichen. Genau weil Grenzüberschreitungen und Universalisierungsprojekte das moderne Europa im positiven und im negativen Sinn immer auszeichneten, ist die Frage nach den Grenzen Europas immer schon verbunden mit den Perspektiven, diese Grenzen auszuweiten oder hinter sich zu lassen. Europa lässt sich deshalb nur voluntaristisch bestimmen. Europa wird das sein, was es unter gegebenen Umständen sein will. Der deutsche Politologe Thomas Meyer hat vorgeschlagen, zwei Arten von europäischen Grenzlinien zu unterscheiden: harte Grenzen, die, soweit es gegenwärtig politisch vertretbar ist, nicht transzendiert werden können: »Russland und Afrika liegen jenseits dieser harten Grenzen.« Und eine weiche Grenze, die im Osten und Südosten Europas verläuft, und die nicht »durch das Graben in der Geschichte und auch nicht durch den Status quo politischer Herrschaft nur zu entdecken, sondern durch die Abwägung [pragmatischer] Gründe zu erfinden [ist]«. 70 Die Erfindung dieser Grenze betrifft natürlich Länder wie die Ukraine oder Weißrussland, die Türkei oder auch Israel. Und dass der Atlantik eine Grenze bildet, muss überhaupt erst wieder ins europäische Bewusstsein gelangen.
    Der Frage nach den politischen Grenzen Europas entzieht man sich in der Regel durch den Verweis auf die Idee einer europäischen Gemeinschaft, die, wenn überhaupt, nur unscharfe, flexible und ausgeblendete Grenzen kennt und sich lieber über gemeinsame Werte denn über gemeinsame Grenzen definiert. Wenn in Reden über Europa die Idee der Gemeinschaft beschworen wird, dann geht es allerdings auch um das bekannte Problem, dass Europa in Gestalt der Europäischen Union vielen Bürgern dieses Staatenverbandes als bürokratische, kalte politische Herrschafts- und Organisationsform entgegentritt, die vor allem an den Freiheiten des Binnenmarktes orientiert ist und deshalb die Ökonomie privilegiert. Die emotionalen Bindungskräfte seien, so sagt man, demgegenüber nur schwach entwickelt, das soziale, das kulturelle, das menschliche Europa, das Europa der Bürger, scheint noch auszustehen. Europa benötige neben der Zentralbank auch eine Seele, die Europäer sollen sich als Angehörige einer größeren Gemeinschaft fühlen. Und nicht selten wird in diesem
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