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Lob der Grenze - Kritik der politischen Unterscheidungskraft

Lob der Grenze - Kritik der politischen Unterscheidungskraft

Titel: Lob der Grenze - Kritik der politischen Unterscheidungskraft
Autoren: Paul-Zsolnay-Verlag
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Anfang rekonstruieren. Wann hat etwas eigentlich angefangen – und diese Frage gilt für das private Leben ebenso wie für die Historie. Anfang und Ursache fallen so zusammen, den Anfang in Händen zu haben, heißt auch zu wissen, warum etwas so geworden ist, wie es nun ist. Erzählungen vom Anfang verschaffen deshalb immer das beruhigende Gefühl, nun zu wissen, warum etwas ist, und dieses Moment zeichnet jede narrative Rede aus: vom Mythos über die literarische Erzählung bis hin zur Geschichtswissenschaft. Die Rekonstruktion einer Ursachenkette in der Zeit ist allerdings stets unabschließbar. Wenn man will, kann man jedes noch so belanglose Ereignis bis auf den Urknall oder Adam und Eva zurückverfolgen. So gut angesichts möglicher negativer Konsequenzen von Anfängen deshalb der politische Slogan »Wehret den Anfängen« auch klingt, im Kontinuum politischen Handelns ist selten, vielleicht nie klar, was, wenn etwas beginnt, damit eigentlich anfängt. Das aber würde bedeuten, dass, gerade weil wir einen Anfang suchen, die Dinge keinen Anfang haben. Das nötigt uns, noch einmal genauer über den Anfang und die durch ihn gesetzten Grenzen nachzudenken.
    Was geschieht, wenn wir nicht die anthropologisch-lebensweltliche Bedeutung des Anfangens, nicht den Aspekt der Natalität, sondern den Begriff des Anfangs selbst genauer betrachten? Der deutsche Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel fängt zum Beispiel an, indem er sich dem Anfang als Anfang überlässt. Und die Grundsituation allen Anfangs ist folgende: »Es ist noch nichts, und es soll etwas werden.« Das ist die einfache logische Struktur des Anfangs. Denn wenn schon etwas da ist, muss es schon angefangen haben, und der Anfang wäre schon vorbei; wenn aber wirklich das reine Nichts wäre, wollte offensichtlich niemand etwas anfangen, und es gäbe keinen Anfang. Man kann also nicht mit dem Nichts anfangen, man kann aber auch nicht damit anfangen, dass schon etwas ist. Der Begriff »Anfang« beginnt also im Hegel’schen Sinn zu »arbeiten«: »Der Anfang ist nicht das reine Nichts, sondern ein Nichts, von dem Etwas ausgehen soll; das Sein ist also auch schon im Anfang enthalten. Der Anfang enthält also beides: Sein und Nichts; ist die Einheit von Sein und Nichts, – oder ist Nichtsein, das zugleich Sein, und Sein, das zugleich Nichtsein ist.« 9
    Man kann nun sagen, das ist Wortspielerei und dialektische Akrobatik; wenn man aber wirklich den Begriff des Anfangs durchdenkt, wird man notwendigerweise auf diese Widersprüchlichkeit stoßen, dass im Anfang selbst die Idee des Nichts und die Idee des Seins enthalten sein müssen, dass deshalb auch die Grenze zwischen Sein und Nichts und die Überwindung dieser Grenze mitgedacht sein muss. Der Anfang muss Sein und Nichts enthalten – zwei große Begriffe der abendländischen Ontologie. Was bedeuten diese für den Anfang?
    »Was die Wahrheit ist, ist weder das Sein noch das Nichts, sondern daß das Sein in Nichts und Nichts in Sein – nicht übergeht, sondern übergegangen ist.« 10 Wer anfängt, hat immer schon angefangen. Sein geht permanent in Nichts und Nichts geht permanent in Sein über. Diese Bewegung aber ist das »Werden« – also Entstehen und Vergehen. Der Begriff des Werdens enthält das Sein und das Nichts, ist aber von diesen beiden Kategorien deutlich unterschieden und unterscheidet in dieser Unterscheidung das Sein vom Nichts. Das Geheimnis des Anfangs besteht darin, dass etwas wird. Damit etwas wird, muss aber immer schon etwas geworden sein. Das heißt: Der Anfang hat immer schon angefangen, ist also kein Anfang. Trotzdem können wir uns ohne Anfang weder begreifen, noch können wir ohne die Fiktion dieses Anfangs irgendetwas Sinnvolles tun.
    Vielleicht haben die Menschen genau aus diesem Grund, um sich die Möglichkeit des Anfangs vor Augen zu führen, die Kunst erfunden. Denn die Kunst, so könnte man eine etwas gewagte These formulieren, ist das Einzige in dieser Welt, das tatsächlich einen definierten Anfang und ein Ende hat. Gegen die These von Hannah Arendt, dass der Anfang wesentlich in der Sphäre des Sprechens und Handelns angesiedelt ist, ließe sich ergänzend einwenden, dass die Sphäre des Herstellens wesentlich signifikanter von Anfang und Ende gekennzeichnet ist als das Leben selbst. Anfänge im Leben müssen durch Initiationsriten aller Art oft erst verdeutlicht werden. Dort, wo etwas gemacht werden soll, ist sowohl der Anfang klar als auch das Fertigwerden. Am deutlichsten,
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