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Lob der Grenze - Kritik der politischen Unterscheidungskraft

Lob der Grenze - Kritik der politischen Unterscheidungskraft

Titel: Lob der Grenze - Kritik der politischen Unterscheidungskraft
Autoren: Paul-Zsolnay-Verlag
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flüchtigen Dasein so etwas wie Bestand und Dauer entgegenhält; das Handeln schließlich, soweit es der Gründung und Erhaltung politischer Gemeinwesen dient, schafft die Bedingungen für eine Kontinuität der Generationen, für Erinnerung und damit für Geschichte.« Alle diese Tätigkeiten sind aber auch an der Geburtlichkeit, der Natalität orientiert, »da sie immer auch die Aufgabe haben, für die Zukunft zu sorgen, bzw. dafür, dass das Leben und die Welt dem ständigen Zufluss von Neuankömmlingen, die als Fremdlinge in sie hineingeboren werden, gewachsen und auf ihn vorbereitet bleibt«. Dabei allerdings, und dies ist eine entscheidende These von Arendt, ist »das Handeln an die Grundbedingung der Natalität enger gebunden als Arbeiten und Herstellen«. Denn Handeln selbst ist an die Möglichkeit, immer wieder einen Anfang setzen zu können, geknüpft: »Der Neubeginn, der mit jeder Geburt in die Welt kommt, kann sich in der Welt nur darum zur Geltung bringen, weil dem Neuankömmling die Fähigkeit zukommt, selbst einen neuen Anfang zu machen, d.h. zu handeln.« 3 Wer handelt, ergreift eine Initiative, er setzt ein initium, also einen Anfang. Daraus schloss Hannah Arendt übrigens, dass die Natalität, die Geburtlichkeit, für die politische Tätigkeit, die das Handeln schlechthin definiert, von entscheidender Bedeutung sein müsste.
    Natalität, Geburtlichkeit, bedeutet also nicht nur, in einem biologischen Sinn geboren zu werden, auf die Welt zu kommen, sondern damit verbunden ist die Möglichkeit – und erst dies unterscheidet das Arendt’sche Konzept der Natalität von einer reinen Reproduktionstheorie –, immer von neuem zu beginnen, einen Anfang in einer Welt zu setzen, die immer schon angefangen hat. Arendt unterscheidet sich damit auch deutlich von allen Konzeptionen, die die Möglichkeiten eines Neuanfangs für das Individuum aufgrund der von ihm immer schon vorgefundenen, also schon begonnenen Welt eher geringschätzen. Die Konzeptionen eines milieutheoretisch begründeten Determinismus etwa, die dem Einzelnen nur die Fortsetzung der immer schon begonnenen Erfahrungen zutrauen, konterkarieren dieses Konzept von Natalität ebenso wie der einstmals berühmte Satz von Karl Marx, der lautet: »Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen […] Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden.« 4 Demgegenüber setzt Hannah Arendt auf den Anfang als radikalen Neubeginn menschlicher Individualität und Einzigartigkeit, die wiederum die Möglichkeit des Anfangens voraussetzen.
    Menschen, die nichts anderes tun, als das fortzusetzen, was die Vorfahren begonnen haben, bleiben in deren Bann, ohne Möglichkeit, das Eigene gegen das Vorgegebene zu setzen und sich durch diese Abgrenzung, also durch die Möglichkeit, selbst etwas zu beginnen, neu zu definieren. Die Faktizität der Geburt schafft wohl die Voraussetzung für solch einen Neubeginn, garantiert diesen aber noch nicht. Einen neuen Anfang kann nur jemand setzen, der sich vom Bisherigen distanziert, in Differenz zu diesem setzt, zwischen dem, was er sein will, und dem, was vor ihm war, eine scharfe Grenze zieht. Solch eine Abgrenzung vollzieht sich nach Arendt ausschließlich im Sprechen und Handeln: »Sprechen und Handeln sind die Tätigkeiten, in denen diese Einzigartigkeit sich darstellt. Sprechend und handelnd unterscheiden Menschen sich aktiv voneinander, anstatt lediglich verschieden zu sein; sie sind die Modi, in denen sich das Menschsein selbst offenbart.« 5 In dem Maße, in dem menschliches Leben schlechthin mit diesen Daseinsweisen des Sprechens und Handelns verbunden ist, ist das Immer-wieder-von-neuem-anfangen-Können Konstituens nicht nur des Individuums, sondern auch der Gemeinschaft.
    Anfangen können wir nur in den kommunikativen Akten des Sprechens und in den Weisen des Handelns, die wir anderen Menschen gegenüber setzen. Wir können dadurch den Anfang, das heißt die Initiative ergreifen. Damit beziehen wir allerdings auch Stellung zu der Welt, in die wir hineingeboren wurden: »Sprechend und handelnd schalten wir uns in die Welt der Menschen ein, die existierte, bevor wir in sie geboren wurden, und diese Einschaltung ist wie eine zweite Geburt, in der wir die nackte Tatsache des Geborenseins bestätigen, gleichsam die Verantwortung dafür
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