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Lob der Grenze - Kritik der politischen Unterscheidungskraft

Lob der Grenze - Kritik der politischen Unterscheidungskraft

Titel: Lob der Grenze - Kritik der politischen Unterscheidungskraft
Autoren: Paul-Zsolnay-Verlag
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Lobbyisten und Beratern zu sehen war, gewinnt das Bild des unbestechlichen Beamten doch wieder an Charme.
    Die Unsicherheit, wie wir die Gegenwart verstehen sollen, drückt sich in letzter Instanz aber in unserem Verhalten aus. Würde diese Krise tatsächlich an die Wurzeln unseres Systems reichen – was noch nicht ausgeschlossen werden kann –, müssten wir versuchen, mit einer prinzipiellen Kritik des Kapitalismus darauf zu reagieren. Die Geschichte hat uns aber in dieser Hinsicht die Hände gebunden. Die furchtbaren Erfahrungen, die die Menschheit mit allen Versuchen, den Kapitalismus zu überwinden, gemacht hat, erlauben es uns nicht mehr, blauäugig an einer großen Alternative zu basteln, obwohl sie natürlich denkmöglich wäre. Der Kapitalismus ist kein Naturgesetz, auch wenn das manche seiner Apologeten gerne so sähen, und sich wegen des Scheiterns realsozialistischer Experimente die Lektüre von Marx zu verbieten, ist nicht besonders klug. Aber am historischen Horizont zeichnet sich keine Perspektive einer Überwindung des Kapitalismus ab. Realistischer wäre unter der Annahme einer fundamentalen Systemkrise der Versuch, jene Balancen zwischen privaten Interessen und öffentlichem Wohl, zwischen Markt und Staat, zwischen individueller Freiheit und sozialer Sicherheit, zwischen schrankenloser Gier und verantwortungsbewusster Mäßigung wiederzufinden oder überhaupt erst herzustellen, an denen es offenbar mangelt. Dazu aber gehört auch ein Bewusstsein von Grenzen und von Differenzen, von Unterschieden und ihrer Bedeutung jenseits aller Moral.
    Unterscheidungen zu treffen, wird einer Zeit schwer, die sich prinzipiell davor scheut, überhaupt noch Unterscheidungen im Denken zuzulassen – denn unterscheiden bedeutet ausschließen, und das behagt der aktuellen Inklusionsrhetorik wenig. Grenzen zu ziehen, sei es in der Wirklichkeit, sei es im Denken, gilt als unfein. Der Zeitgeist will Grenzen überschreiten, beseitigen, aufheben, zum Verschwinden bringen. Er täuscht sich damit allerdings über die Funktion und Möglichkeiten von Grenzen ebenso wie über die Bedeutung, die diese für die Analyse und Bewältigung von Krisen einnehmen müssen. Aber auch derjenige, der aus guten Gründen Grenzen zum Verschwinden bringen will, müsste das Lob der Grenze singen, denn nur diese signalisiert ihm, was die Grenze einst schied und was nun offenbar hinfällig geworden ist. Es lohnt sich deshalb, einmal darüber nachzudenken, wie alles begann, wann, wo und warum erste Grenzen gezogen werden müssen, wann und unter welchen Bedingungen Grenzen aufgehoben oder überschritten werden können, wer durch Grenzen ausgeschlossen, aber unter Umständen auch geschützt werden kann, entlang welcher Bruchlinien im Denken und in der Wirklichkeit die Grenzen unserer Tage verlaufen, wo, im Kleinen wie im Großen, in einer Stadt und in Europa, in der Gegenwart und in der Zukunft Grenzen virulent sind und wann wir an äußerste Grenzen stoßen, die, weil unüberschreitbar, keine Grenzen mehr sind.

 
    Am Anfang
    An der Grenze zwischen Sein und Nichts
     
     
    Am Anfang, so viel steht fest, schuf Gott Himmel und Erde. Jeder, der in einer christlichen Kultur sozialisiert wurde, lernte an diesem Satz, was es heißt, überhaupt anzufangen. Denn dieser Anfang, so kündet der Mythos, ist der Anfang schlechthin, der Anfang allen Anfangens, der Anfang, vor dem es keinen anderen Anfang gab. Es ist der absolute Anfang. Mit diesem Anfang aber schuf Gott auch die Grenze – nein: die Grenzen. Denn schon der Schöpfungsakt zieht einerseits die Grenze zwischen Himmel und Erde, andererseits aber die Grenze zwischen Nichts und Sein. Nach dem Anfang ist alles anders. Was aber war vor diesem Anfang? Was tat Gott eigentlich, bevor er Himmel und Erde schuf?
    Diese etwas ketzerische Frage stellte sich niemand Geringerer als Aurelius Augustinus, und er versucht erst gar nicht, die paradoxe Problemkonstellation, die mit dieser Frage verbunden ist, zu beschönigen: »Ich gebe nicht die Antwort, die einst jemand gegeben haben soll, der mit einem Scherz dieser drängenden Frage auswich: [Gott] machte Höllen für die, die solche Geheimnisse ergründen wollen. Doch Witze helfen nicht zum Wissen. Nein, diese Antwort gebe ich nicht, denn lieber würde ich antworten: Was ich nicht weiß, weiß ich nicht, als dass ich den verspottete, der Geheimnisse ergründen will, und für verkehrte Antworten mich loben ließe. Aber ich sage: Du, unser Gott, bist Schöpfer alle
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