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Lob der Grenze - Kritik der politischen Unterscheidungskraft

Lob der Grenze - Kritik der politischen Unterscheidungskraft

Titel: Lob der Grenze - Kritik der politischen Unterscheidungskraft
Autoren: Paul-Zsolnay-Verlag
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auf uns nehmen.« Damit ist aber das Prinzip des Anfangs aus seinem schöpfungstheologischen Kontext zu einem entscheidenden Moment menschlicher Existenz geworden: »Mit der Erschaffung des Menschen erschien das Prinzip des Anfangs, das bei der Schöpfung der Welt noch gleichsam in der Hand Gottes und damit außerhalb der Welt verblieb, in der Welt selbst und wird ihr immanent bleiben, solange es Menschen gibt; was natürlich letztlich nichts anderes sagen will, als dass die Erschaffung des Menschen als eines Jemands mit der Erschaffung der Freiheit zusammenfällt.« 6
    Wenn Anfangen nur aus Freiheit geschehen kann, dann bedeutet dies allerdings, dass Anfänge nicht kalkulierbar sind. Jede Geburt, jeder Neuanfang, jedes In-die-Welt-Kommen eines Menschen stellt ein Risiko dar. Wir wissen nicht, welchen Anfang das Angefangene setzen wird: »Es liegt in der Natur eines jeden Anfangs, dass er, von dem Gewesenen und Geschehenen her gesehen, schlechterdings unerwartet und unerrechenbar in die Welt bricht. Die Unvorhersehbarkeit des Ereignisses ist allen Anfängen und allen Ursprüngen inhärent […] Der Neuanfang steht stets im Widerspruch zu statistisch erfassbaren Wahrscheinlichkeiten, er ist immer das unendlich Unwahrscheinliche.« 7 Hannah Arendt hat mit diesen Überlegungen auf einen Zusammenhang aufmerksam gemacht, der in der gegenwärtigen Innovationsideologie gerne unterschlagen wird: Der Neubeginn, die Möglichkeit des Anfangens, damit die Möglichkeit des Neuen, ist nicht nur höchst unwahrscheinlich, sondern auch nicht berechenbar. Innovation und Initiative können weder gelernt noch trainiert werden. Wohl sind sie Ausdruck der Conditio humana, aber als solcher auch Ausdruck einer Freiheit, die sich letztlich jedem steuernden Zugriff entzieht. Wäre das Neue planbar, wäre Innovation lernbar, wäre der Anfang kontrollierbar, dann handelte es sich eben gerade nicht um neue Anfänge, sondern um die Fortsetzung des Üblichen, vielleicht mit anderer Rhetorik.
    So weit die anthropologische Ausdeutung des Anfangs bei Hannah Arendt. Entscheidend ist der damit supponierte Zusammenhang zwischen der Fähigkeit des Menschen, etwas anfangen zu können, und seiner Freiheit und Individualität. Ohne Freiheit kein Anfang und ohne Anfang keine unverwechselbare Identität. Der Alltagssatz, mit dem wir manchmal uns allzu träg scheinende junge Menschen quälen – Was wirst du einmal anfangen? –, hat etwas von diesen Zusammenhängen aufbewahrt. Die Frage könnte auch lauten: Was wirst du einmal machen? Oder: Wer wirst du einmal werden?
    Der Anfang ist so immer ein Akt, eine Tat, zumindest eine Sprechhandlung. Johann Wolfgang von Goethe hat in dem berühmten Faust-Monolog, in dem der greise Gelehrte, noch nicht verbündet mit Mephisto, noch nicht verjüngt, aber schon in Anwesenheit des diabolischen Pudels, über eine Übersetzung des ersten Satzes des Johannesevangeliums nachdenkt, diese Einsicht in klassische Verse gekleidet:
     
    Geschrieben steht: »Im Anfang war das Wort!«
    Hier stock ich schon! Wer hilft mir weiter fort?
    Ich kann das Wort so hoch unmöglich schätzen,
    Ich muß es anders übersetzen,
    Wenn ich vom Geiste recht erleuchtet bin.
    Geschrieben steht: Im Anfang war der Sinn.
    Bedenke wohl die erste Zeile,
    Daß deine Feder sich nicht übereile!
    Ist es der Sinn, der alles wirkt und schafft?
    Es sollte stehn: Im Anfang war die Kraft!
    Doch, auch indem ich dieses niederschreibe,
    Schon warnt mich was, daß ich dabei nicht bleibe.
    Mir hilft der Geist! Auf einmal seh ich Rat
    Und schreibe getrost: Im Anfang war die Tat! 8
     
    Am Anfang war die Tat! Der Satz ließe sich allerdings auch umkehren: Jede Tat, die diesen Namen verdient, jede (bewusste) Handlung ist ein Anfang, sofern sie Folgen und Wirkungen zeitigt. Allerdings: Nicht von jeder Handlung wissen wir, was da eigentlich anfängt oder angefangen hat. Das Paradoxe am Anfang ist, dass er, zumindest lebensweltlich betrachtet, vom Ende her gedacht werden muss. Erst wenn wir wissen, was geworden ist oder zu was etwas geführt hat, wissen wir auch, was eigentlich angefangen worden war. Gerade weil einerseits jeder Mensch neu anfangen kann, sein Handeln aber Auswirkungen auf andere Menschen und deren Anfangen haben wird, ist nie ausgemacht, ob das, was wie bewusst auch immer begonnen worden ist, tatsächlich auch der Anfang jener Sache gewesen sein wird, die intendiert war. Umgekehrt: Das, was geschehen ist, versuchen wir deshalb auch zu begreifen, indem wir den
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