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Lob der Grenze - Kritik der politischen Unterscheidungskraft

Lob der Grenze - Kritik der politischen Unterscheidungskraft

Titel: Lob der Grenze - Kritik der politischen Unterscheidungskraft
Autoren: Paul-Zsolnay-Verlag
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wir bei allem, was wir durch Industrialisierung und Technisierung gewonnen haben, auch etwas verloren haben. Es gibt in der Geschichte keinen zivilisatorischen Gewinn ohne Verlust. Nietzsche schreibt im 329. Aphorismus der Fröhlichen Wissenschaft unter dem Stichwort Muße und Müßiggang : »Es ist eine indianerhafte, dem Indianer-Bluthe eigenthümliche Wildheit in der Art, wie die Amerikaner nach Gold trachten: und ihre athemlose Hast der Arbeit – das eigentliche Laster der neuen Welt – beginnt bereits durch Ansteckung das alte Europa wild zu machen und eine ganz wunderliche Geistlosigkeit darüber zu breiten. Man schämt sich jetzt schon der Ruhe; das lange Nachsinnen macht beinahe Gewissensbisse. Man denkt mit der Uhr in der Hand, wie man zu Mittag isst, das Auge auf das Börsenblatt gerichtet, – man lebt, wie Einer, der fortwährend Etwas ›versäumen könnte‹. […] Das Leben auf der Jagd nach Gewinn zwingt fortwährend dazu, seinen Geist bis zur Erschöpfung auszugeben, im beständigen Sich-Verstellen oder Ueberlisten oder Zuvorkommen: die eigentliche Tugend ist jetzt, Etwas in weniger Zeit zu thun, als ein Anderer. […] Die Arbeit bekommt immer mehr alles gute Gewissen auf ihre Seite: der Hang zur Freude nennt sich bereits ›Bedürfniss der Erholung‹ und fängt an, sich vor sich selber zu schämen. ›Man ist es seiner Gesundheit schuldig‹ – so redet man, wenn man auf einer Landpartie ertappt wird. […] Nun! Ehedem war es umgekehrt: die Arbeit hatte das schlechte Gewissen auf sich.« 108
    Man könnte leicht an sich selbst überprüfen, wie weit wir dieser Diagnose Nietzsches schon genügen. Man könnte sich fragen, wann hat man denn zuletzt einen Spaziergang unternommen, ein Gespräch geführt, ein Kunstwerk betrachtet, sich der Muße – wie es so schön heißt – hingegeben, ohne arbeitsträchtigen Hintergedanken und ohne schlechtes Gewissen. Die Moderne, so Nietzsches Diagnose, zeigt sich auch daran, dass die außenorientierte Arbeit zu einem Ethos, zu einer Lebensform geworden ist, die andersgeartete Tätigkeiten nur noch mit schlechtem Gewissen zulässt. Nicht zuletzt das Diktat der Zeit und die omnipräsente Zweckorientierung – und die Beschreibung der Freiwilligentätigkeit im Papier des Europäischen Parlamentes ist dafür ein deutliches Beispiel – lassen alles andere in einem schrägen Licht erscheinen. Das hat Gründe.
    Von den vier Dimensionen menschlicher Tätigkeit, die Aristoteles noch kannte – Arbeit, Herstellen, Handeln und Kontemplation –, ist uns, so zumindest die These von Hannah Arendt, nur die Arbeit geblieben. Das aber bedeutet: Um den Preis einer nicht zu gering erachtenden, formellen Freiheit und eines relativen materiellen Wohlstandes führen wir – auch wenn das jetzt übertrieben erscheinen mag – aus der Perspektive der antiken Anthropologie das Leben von Sklaven. Wir sind Gebundene: an unsere Zeit, an unseren Job, an unsere Termine, an unsere Verpflichtungen. Wir verfügen nicht souverän über unsere Zeit und über unser Leben. Man muss sich vergegenwärtigen, was das bedeutet. Anstatt dass wir, wie es die Utopien der Moderne verhießen, durch die industriellen Revolutionen alle zu Herren geworden wären, wurden wir alle zu Knechten. Und schon Hannah Arendt deutet am Ende ihrer Studie an, dass auch diese Form der allumfassenden Arbeit unter modernen Bedingungen noch einmal entwertet werden könnte: »In ihrem letzten Stadium verwandelt sich die Arbeitsgesellschaft in eine Gesellschaft von jobholders, und diese verlangt von denen, die ihr zugehören, kaum mehr als ein automatisches Funktionieren, als sei das Leben des Einzelnen bereits völlig untergetaucht in den Strom des Lebensprozesses, der die Gattung beherrscht, und als bestehe die einzige aktive, individuelle Entscheidung nur noch darin, sich selbst gleichsam loszulassen, seine Individualität aufzugeben, bzw. die Empfindungen zu betäuben, welche noch die Mühe und Not des Lebens registrieren, um dann völlig ›beruhigt‹ desto besser und reibungsloser ›funktionieren‹ zu können.« 109
    Erst vor diesem Hintergrund könnte sich die freiwillige und ehrenamtliche Tätigkeit in ihrer vollen chancenreichen Bedeutung für eine moderne Gesellschaft erschließen. Denn der ältere Ausdruck Ehrenamt deutet an, dass es sich hier um Tätigkeiten handelt, die dem alten Begriff der Praxis entsprechen. Es sind soziale und kommunikative Aktivitäten, in denen es um die Gemeinschaft geht – sei es, dass
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