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Und verfuehre uns nicht zum Boesen - Commissaris van Leeuwens zweiter Fall

Und verfuehre uns nicht zum Boesen - Commissaris van Leeuwens zweiter Fall

Titel: Und verfuehre uns nicht zum Boesen - Commissaris van Leeuwens zweiter Fall
Autoren: Claus Cornelius Fischer
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    Die junge Frau in dem gelben Sommerkleid betrat die Fähre als Letzte. Sie ging jetzt immer als Letzte an Bord, kurz bevor die Fähre ablegte, und vorher wartete sie, bis alle anderen Passagiere ihre Fahrräder und Motorroller auf das Deck geschoben hatten. Sie hielt sich abseits und sah in die Gesichter der Männer, und wenn sie sich überzeugt hatte, dass er nicht darunter war, lief sie rasch über den Steg und schaffte es jedes Mal, die Letzte zu sein.
    Es war eine frische Nacht. Der Wind wehte stetig vom Ijsselmeer landeinwärts, und der Himmel über dem Hafen war klar und dunkelblau. Die Frau blieb mit ihrem Fahrrad ganz hinten an der Landeklappe stehen. Sie stand mit dem Rücken zum Wasser, und ihre Blicke flogen unablässig von der Backbordreling zu den Bänken unter der Kommandobrücke und von dort zur Steuerbordreling und wieder zurück, denn vielleicht hatte sie ihn übersehen, und er war doch irgendwie an Bord gelangt.
    Die Lampen an Deck spendeten kaum Helligkeit, sodass alles fremd wirkte, silbrig und grobkörnig und unscharf. Die anderen Passagiere sahen nach vorn; einige redeten miteinander, aber die meisten lasen Zeitung oder telefonierten oder warteten schweigend auf das Ende der Überfahrt. Es waren genau vierundzwanzig Männer: Geschäftsleute, Arbeiter, Kellner, die letzten Berufstätigen. Die Frau achtete nur auf die Männer, auf die Farbe ihrer Haut. Sie versuchte, ihn an den Händen zu erkennen oder am Hals, aber in dem schwachen Licht fiel die Unterscheidung schwer.
    Am Bug lehnte ein junges Pärchen, das sich küsste; daneben kauerte eine Gruppe von fünf Halbwüchsigen in Kapuzenshirts und Baggy Pants um einen Gettoblaster. Fetzen arabischer Musikirrlichterten über das Deck, Trommeln, immer wieder übertönt vom Klatschen der Wellen gegen die Bordwand. Es klang wie die Lieder auf den Videos, die Amir für ihren Laden angeschafft hatte, die Bollywood-Filme und Live-Konzerte von afrikanischen Bands im letzten Regal vor der Kammer mit den Pornos.
    Das bin ich ohne Amir , dachte die junge Frau: jemand, der misstrauisch geworden ist; jemand, der sich an der Lenkstange seines Rads festhält, weil ihm schon übel wird, wenn er nur einen einzigen Schritt unter Menschen gehen muss.
    Früher war sie gern mit der Fähre gefahren. Sie hatte immer an der Reling gestanden, während die wuchtige Silhouette der Cen-traal Station zurückgeblieben war und rechts und links davon die Lichter der Stadt und manchmal ein hell erleuchteter Schnellzug auf dem Bahndamm. Sie hatte zugesehen, wie der Mondschein im Kielwasser von Welle zu Welle sprang, und sie hatte sich über den Wind auf ihrem Gesicht gefreut und über den Salzgeruch der See, und manchmal war Amir bei ihr gewesen, den Arm voller Rosen.
    Sie durfte nicht an ihn denken, das sagte sie sich die ganze Zeit: Ich darf nicht an ihn denken, nicht an seine Augen, nicht an seinen Mund oder seine Haare, auch nicht an sein Lachen oder seine Zärtlichkeit, an seine Hände oder seinen Geruch, an nichts, sonst verliere ich den Verstand, einfach so. Aber sie brauchte auch nicht an ihn zu denken, er war ja in ihr. Amir war alles, woraus sie bestand.
    Zwischen den Fahrgästen vorne am Bug konnte man schon das andere Ufer sehen, die Straßenlaternen am Kai, den matten Glanz des feuchten Pflasters. Es war kurz nach eins, und niemand wartete mehr an der Anlegestelle. Die junge Frau in dem gelben Sommerkleid packte die Lenkergriffe fester und klappte den Fahrradstän-der hoch, um das Rad zum Bug zu schieben. Sie ließ die Augen nicht von den anderen Passagieren vor ihr, von den Rücken, den Hälsen.
    Sie hatte nicht gewusst, dass sie so viel Angst haben konnte; dass überhaupt ein einziger Mensch so viel Angst haben konnte.
    Als sie nah genug an der Landeklappe war, bemerkte sie die Sehnenam Nacken des Mannes ganz links, wie angespannt sie waren , und plötzlich wusste sie, dass sie einen Fehler gemacht hatte.
    Er war da. Sie hatte ihn nicht an Bord gehen sehen, aber er war da. Wie in einem Traum hatte sie das Gefühl, als gerinne die Zeit um sie. Die Minuten dehnten und verlangsamten sich. Ihr Mund wurde trocken. Sie blieb stehen und musste sich auf das Fahrrad stützen, weil sie ihre Füße nicht mehr spürte.
    Es war ein Fehler gewesen, die Fähre zu nehmen. Auf der Fähre war sie ihm ausgeliefert. Sie merkte es immer zu spät, wenn sie wieder einmal etwas falsch gemacht hatte. Es gab Fehler, die nicht so schlimm waren: wenn man ein Kleid kaufte, das man nirgendwo
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