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Lob der Grenze - Kritik der politischen Unterscheidungskraft

Lob der Grenze - Kritik der politischen Unterscheidungskraft

Titel: Lob der Grenze - Kritik der politischen Unterscheidungskraft
Autoren: Paul-Zsolnay-Verlag
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diejenigen, die noch in der industriellen Moderne lange diesen alten Begriff des Herstellens versinnbildlichen und verdeutlichen konnten: Jemand schafft etwas aus sich, hat eine Idee, einen Gedanken, einen Plan, eine Intuition und versucht, dies dann in einen Gegenstand, in ein Werk zu transformieren. Künstlerische Tätigkeit gilt so bis heute oft als Inbegriff einer selbstbestimmten Tätigkeit.
    Die dritte Dimension des aktiven Lebens, neben Arbeiten und Herstellen, die eigentliche Dimension, in der sich der Mensch in seiner Freiheit tatsächlich realisieren kann, war für die Antike die Praxis . Und dies ist genau der Punkt, an dem man freiwillige und ehrenamtliche Tätigkeiten an eine große europäische Tradition rückbinden könnte. Denn das antike Modell von Praxis impliziert die Freiwilligkeit ebenso wie den sozialen und kommunikativen Aspekt. Praxis wurde damals verstanden als Handeln, als Form der Kommunikation, der Interaktion mit Menschen, Handeln als die Organisation des Gemeinwesens, also Politik im ursprünglichen Sinn als Form und Frage der Regelung der Beziehung zwischen den Menschen – von der Verwaltung der Polis über die Wohlfahrt bis hin zum Krieg. Die Heere der klassischen griechischen Stadtstaaten waren selbstverständlich Freiwilligenheere, es war für die Soldaten tatsächlich ein Ehrenamt, und sie hatten auch für die Bewaffnung selbst aufzukommen. Im antiken Griechenland konnten nur reiche Bürger in den Krieg ziehen.
    Dieser dreifach gefächerten Welt des tätigen Menschen, der entweder arbeitet oder herstellt oder praktisch handelt, stellte Aristoteles noch eine vierte, generell entgegengesetzte Daseinsmöglichkeit gegenüber, nämlich die vita contemplativa , die kein tätiges Leben, sondern ein anschauendes Leben ist – beschaulich wäre nicht der richtige Ausdruck dafür. Der bios theoretikós , das theoretische Leben, war für Aristoteles die höchste und damit gelungenste, glücklichste Daseinsweise, in der der Mensch auch nicht mehr handelt, sondern in der er sich tatsächlich darauf beschränkt – Urbild jeder philosophischen Existenz –, Theorie zu betreiben, denn theoría meinte einmal diese Form der Anschauung: Die Dinge nur noch zu betrachten und sie zu verstehen versuchen, und vielleicht das, was von der Welt verstanden wurde, anderen mitzuteilen, war einmal der ursprüngliche Kern, die ursprüngliche Idee von Theorie und Kontemplation.
    Die Transformation menschlicher Tätigkeit nach dem Modell der Erwerbsarbeit im Prozess der Industrialisierung wurde von sensiblen Geistern als durchaus bedrohlich empfunden. Friedrich Nietzsche etwa spürte deutlicher als andere, dass dieser Prozess der Laborisierung auch und für ihn in erster Linie gegen jede freie, selbstbestimmte, vor allem auch gegen jede kreative Tätigkeit gerichtet war. Er schreibt in Menschliches Allzumenschliches : »Wir haben das Gewissen eines arbeitsamen Zeitalters: diess erlaubt uns nicht, die besten Stunden und Vormittage der Kunst zu geben, und wenn diese Kunst selber die grösste und würdigste wäre. Sie gilt uns als Sache der Musse, der Erholung: wir weihen ihr die Reste unserer Zeit, unserer Kräfte. […] Es dürfte desshalb mit ihr zu Ende sein, weil ihr die Luft und der freie Athem fehlt: oder – die grosse Kunst versucht, in einer Art Vergröberung und Verkleidung, in jener anderen Luft heimisch zu werden (mindestens es in ihr auszuhalten), die eigentlich nur für die kleine Kunst, für die Kunst der Erholung, der ergötzlichen Zerstreuung das natürliche Element ist.« 107 Die Aktualität dieses Befundes ist im Zeitalter der Erlebniskultur kaum zu dementieren. Dass Kultur schlechterdings zu Unterhaltung und Zerstreuung, damit aber zu einem arbeitsträchtigen produktiven Sektor der Gesellschaft wird, ist nicht zu bestreiten. Von Nietzsche unterscheiden wir uns aber wahrscheinlich in der Bewertung dieses Prozesses. Die Laborisierung der Kultur ist für uns eine Chance, kein Verhängnis. Wir sprechen dann von Professionalisierung.
    Vielleicht war Nietzsche seinem Denken nach tatsächlich der letzte Grieche. Er hat noch einmal ein Lob der Muße gesungen, er hat als einer der Letzten den Begriff der Arbeit noch einmal, wenn auch im vollen Wissen, dass es damit vorbei ist, dem Begriff der vita contemplativa entgegengestellt. Und mit der folgenden kurzen Stelle soll nicht irgendetwas beschworen werden, was vorbei ist, sondern nur darauf aufmerksam gemacht werden, dass wir uns bewusst sein müssen, dass
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