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Lob der Grenze - Kritik der politischen Unterscheidungskraft

Lob der Grenze - Kritik der politischen Unterscheidungskraft

Titel: Lob der Grenze - Kritik der politischen Unterscheidungskraft
Autoren: Paul-Zsolnay-Verlag
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anderen als Arbeit zu klassifizieren, scheinen wir etwas Wertvolles und Sinnvolles zu tun.
    Die Erwerbsarbeit ist längst zur einzigen relevanten Quelle und zum einzig gültigen Maßstab für die Wertschätzung all unserer Tätigkeiten geworden. Jede emotionale, kommunikative, soziale Tätigkeit, in der wir nicht eine Form von Arbeit erkennen, scheint uns suspekt zu sein. Nur mit Menschen zu reden, sich um jemanden zu sorgen, für jemanden da zu sein oder gar nur Menschen zu lieben – das ist nichts, es muss zumindest Versorgungs- und Beziehungsarbeit geleistet werden. Auch wenn das eine metaphorische Verwendung des Begriffs Arbeit ist, wird mit dieser Begriffstransformation mehrfaches signalisiert. Auf der einen Seite unterstreichen wir damit die Universalisierung eines Begriffs, der uns ans Herz gewachsen zu sein scheint, und auf der anderen Seite verschwindet etwas: die Dimension einer Tätigkeit nämlich, die frei ist von dem, was untrennbar mit dem Begriff der Arbeit verbunden ist: messbare Leistung. Denn erst dieses Maß erlaubt es, nach der Effektivität von Arbeit zu fragen, und wir universalisieren den Arbeitsbegriff, damit wir nach Effektivität fragen können. Durch dieses Maß der Effektivität in der Zeit werden Arbeiten unterschiedlichster Art aber erst miteinander vergleichbar, und genau diese Vergleichbarkeit ermöglicht dann die soziale Wertschätzung. Also erst wenn die Menschen Beziehungsarbeit leisten, produzieren sie damit etwas Wertvolles, das verglichen, beziffert, gegen eine andere Leistung aufgerechnet, letztlich bezahlt werden kann; solange sie nur lieben, produzieren sie keine Werte. Diesen soeben skizzierten Prozess könnte man als die Laborisierung menschlicher Tätigkeiten seit dem 19. Jahrhundert beschreiben.
    Wir sind wesensmäßig seit dem 19. Jahrhundert in erster Linie und vor allem Arbeiter, und zwar ohne Ausnahme. Die Erwerbsarbeit ist zum zentralen Paradigma unseres Daseins geworden. Das war nicht immer so. Frühere Epochen kannten durchaus sinnfällige Differenzierungen zwischen Arbeit und anderen Aktivitäten. Aristoteles etwa hatte den Versuch unternommen, die menschlichen Tätigkeiten zu klassifizieren. Und aus dem Reichtum dieser Klassifizierung lässt sich vielleicht auch ermessen, was wir schon auf der Ebene der begrifflichen Unterscheidungen mittlerweile verloren haben. Hannah Arendt hat in ihrem wichtigen Buch Vita activa 106 , wie schon im Kapitel über den Anfang angemerkt, diese Differenzierung aufgegriffen. Arendt unterschied drei Möglichkeiten, tätig zu werden, und die Art und Weise, wie wir seit der Moderne mit diesen Möglichkeiten umgegangen sind, sagt einiges über unser Verhältnis zum Arbeitsbegriff aus. Die erste Möglichkeit war die Arbeit , hier allerdings ausschließlich gedacht als jene notwendige Arbeit, die gemacht werden musste, wenn man überhaupt leben wollte: Plage und Mühe. Die Antike stand auf dem Standpunkt, dass diese Arbeit nicht menschenwürdig sei, weshalb sie am besten von Sklaven verrichtet werden sollte. Das ist brutal, und trotzdem steckt in dieser Brutalität eine ungeheure Wahrheit, die selbst wieder grausam ist. Die Antike hatte diese Form von mühseliger Naturbearbeitung nicht deshalb verachtet, weil sie dafür Sklaven beschäftigte, sondern sie hatte die Sklaven, weil man meinte, dass diese notwendigen Beschäftigungen ihrer Natur nach menschenunwürdig sind. Menschsein in vollem Sinn hieß bei Aristoteles aber, frei zu sein, solchen Notwendigkeiten gerade nicht unterworfen zu sein. Frei aber ist nur jemand, der tatsächlich jederzeit tun und lassen kann, was er will, und von keinerlei Umständen zu irgendetwas gezwungen werden kann. Deshalb war Arbeit, in der man sich eben anderen Gesetzen unterwerfen muss, schlechterdings nichts für einen Menschen, der den Anspruch hatte, frei zu sein.
    Die zweite Form der Tätigkeit ist das Herstellen , Poesis . Herstellen ist etwas anderes als Arbeit, denn Herstellen hat schon ein Element von Freiheit an sich. Herstellen bezieht sich auf etwas Geplantes, ist das bewusste Hervorbringen eines Produktes, Werkzeuges oder Gegenstandes, bei dem ein Mensch eine Idee hat und dann versucht, mit einer spezifischen Technik, ja mit einer gewissen Kunstfertigkeit, diese zu verwirklichen. Handwerker, die auch bis in die späte Neuzeit von Arbeitern sehr wohl unterschieden wurden, sind dem Wesen nach herstellende Menschen, und dies betrifft auch die Künstler, die Poeten. Die Künstler sind vielleicht
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