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Liverpool Street

Liverpool Street

Titel: Liverpool Street
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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beisammenhabe. Morgen lasse ich unsere Namen registrieren.«
    »Brauchen wir denn niemanden, der für uns bürgt, wie die Liebichs?«
    »Nein, Schatz. Nach Shanghai kommen wir auch ohne einen Bürgen. Wir brauchen nicht einmal ein Visum, nur die Ausreisegenehmigung und Plätze auf einem Schiff.«
    Während sie mit mir sprach, warf Mamu immer wieder Blicke zu Papa. Wahrscheinlich diente unser Frage-Antwort-Spiel gleichzeitig dazu, ihm noch einmal vor Augen zu führen, wie einfach es war. Wie einfach es schon die ganze Zeit hätte sein können. »Wir müssen natürlich die Reichsfluchtsteuer bezahlen. Aber mit meinem Schmuck und dem Familienporzellan … wir werden schon genug zurückbehalten, um eine Weile davon leben zu können.«
    Papa stand auf und ging aus dem Zimmer. Seine Traurigkeit blieb zurück und legte sich auf mich. »Was hat er?«, flüsterte ich.
    Mamu blickte zur Seite. Einen Augenblick glaubte ich zu sehen, dass sich ihre Augen mit Tränen füllten, aber ich musste mich getäuscht haben. Mamu weinte nicht. Nie. Papa vielleicht, und ich sowieso, aber nicht Mamu.
    »Papa ist heute seine Zulassung als Rechtsanwalt entzogen worden. Wir haben das kommen sehen, aber nun ist es doch wieder schlimm für ihn. Du weißt ja, wie er gehofft hat …«
    Sie sprach den Satz nicht zu Ende, aber ich wusste auch so, was sie meinte. Mein Vater glaubte noch immer an das gute Deutschland, für das er im Großen Krieg gekämpft hatte. In seinem Kopf gab es eine kleine Sperre, die alles zurückhielt, was ihn vom Gegenteil hätte überzeugen können: dass seine Schlachten an der Westfront, sein Eisernes Kreuz Zweiter Klasse nicht mehr zählten. Dass er kein Deutscher mehr sein sollte, sondern Jude, obwohl die Mangolds seit Generationen evangelisch waren und keiner von uns je eine Synagoge von innen gesehen hatte. Dass seine Genossen aus der SPD ihm auch nicht mehr helfen konnten, selbst wenn der eine oder andere sich noch von Papas Kanzlei vertreten ließ, was von der Gestapo genau beobachtet wurde. Dass man ihn, uns, in Deutschland nicht haben wollte, ja, in fast keinem anderen Land der Welt.
    »Shanghai«, wiederholte ich und ließ den Namen auf der Zunge zergehen. »Das klingt richtig gut, finde ich.«

2
    Wie immer wenn ich Richard, August und Eberhard erspähte, begannen meine Kopfhaut und meine Fingerspitzen unaufhörlich zu prickeln, als hätte man mich an die Steckdose angeschlossen.
    Hatten sie mich auch gesehen? Ich glaubte es nicht, denn während ich mich rückwärts in den nächstgelegenen Hauseingang zurückzog, konnte ich beobachten, wie sie hingebungsvoll ihren abgeschabten alten Fußball durch die Gegend traten. Drei zehnjährige Pimpfe mit einem Fußball, denen man nicht ansah, wozu sie in der Lage waren, wenn man ihnen etwas anderes zum Treten gab.
    Ich versuchte ruhig zu bleiben und sah mich um. Ich befand mich in einem Eingang nahe dem Südende der Schillerpromenade, Planquadrat A2 also, was bedeutete, dass wir in dieser Ecke vier oder fünf Fluchtwege und zwei Verstecke ausgekundschaftet hatten. Diesmal würden sie mich nicht kriegen! Ich stieß mich von der Hauswand ab. Meine drei Feinde im Rücken, ging ich gemächlich in die Richtung zurück, aus der ich gekommen war.
    Ich hörte sofort, dass der Fußball nicht mehr auf den Boden tippte. Das musste nichts bedeuten, am besten ging ich einfach weiter, ohne mich umzudrehen. Ich steckte die Hände in die Jackentaschen und schlenderte, scheinbar ohne Eile, die Straße entlang.
    Aber ich kannte die tragische Geschichte von Lots Frau, ich hätte wissen müssen, dass Befehle wie »Dreh dich nicht um!« im Gehirn praktisch nicht ankommen. Ich kam keine fünf Meter, bevor ich nicht anders konnte, als zumindest ein klitzekleines Auge zu riskieren.
    Richards und meine Blicke kreuzten sich wie Schwertklingen. Den Ball unter dem Arm, kam er grinsend in meinem Tempo hinter mir her, die zwei anderen im Schlepp. Sie warteten nur darauf, dass ich anfing zu laufen.
    Ich ging etwas schneller. Die drei ebenso, wobei ich den Eindruck hatte, dass sie bereits ein wenig aufholten. So hatte es beim letzten Mal auch angefangen. Wenn man es genau betrachtete, hatte ich nur eine einzige Chance. Ich blieb stehen und drehte mich zu ihnen um. »Versucht’s nur, ihr Feiglinge!«, schrie ich. »Fangt mich doch! Die Lungen sollen euch platzen!«
    Sprach’s, drehte mich um und begann zu fliegen.
    Ich kann es nicht anders beschreiben. Es ist ein herrliches Gefühl, wenn man beim
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