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Liverpool Street

Liverpool Street

Titel: Liverpool Street
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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nicht eher halt, bis wir hinter der Friedhofsmauer in Deckung gegangen waren. Im Laufen war ich die Schnellste, war es immer schon gewesen, bereits in der ersten Klasse meiner alten Schule, die seit dem Sommer »judenrein« war. Dort war nun Monika Bär an meine Stelle gerückt. Monika, die beim Wettkampf die Goldmedaille gewonnen hatte, obwohl ich als Erste im Ziel gewesen war. Schließlich konnte man keine Jüdin gewinnen lassen. Das sah ich ein.
    Trotzdem war »judenrein« ein Wort, das ich komplett missverstanden hatte, als ich es zum ersten Mal hörte. Ich nahm an, freundliche Juden wollten unserer ziemlich heruntergekommenen Schule endlich einmal eine Generalreinigung spendieren. Was für ein Reinfall! In Wirklichkeit bedeutete »judenrein« nichts anderes, als dass Rebekka Liebich, Ruben Seydensticker und ich, die drei Juden unserer Klasse, nun jeden Morgen eine Stunde früher aufstehen und zur jüdischen Schule nach Charlottenburg pilgern mussten. Unser alter Direktor bekam dafür sogar eine Belobigung und stand in der Zeitung, was wir ziemlich ungerecht fanden, denn schließlich waren wir drei es und nicht er, die zweimal am Tag durch halb Berlin kurvten, um unsere ehemalige Schule judenrein zu halten.
    »Ist ja nur vorübergehend«, sagte Papa.
    Ich verschwieg ihm, dass ich, vom weiten Schulweg abgesehen, insgeheim ganz froh über den Wechsel war. In der jüdischen Schule wurden wir in Ruhe gelassen, niemand kippte Tinte über unser Heft oder zwang uns, in der Pause »Juden raus« zu spielen, ein beliebtes Würfelspiel, das auch mit lebenden Figuren funktionierte. Vor allem Ruben mit seinen Schläfenlocken war vielseitig einsetzbar, wenn es um Spott und Prügel ging, und die Tatsache, dass er im Unterricht immer alles wusste, machte es nicht besser. Im letzten Schuljahr hatte ihn der Lehrer komplett ignoriert, selbst wenn sich Ruben als Einziger meldete. Lieber vermaß er in »Rassenkunde« vor der ganzen Klasse Rubens langen, schmalen Schädel, um die überlegene Anatomie der arischen Kinder zu demonstrieren. Bekka und ich hatten uns in der letzten Reihe ganz klein gemacht, obwohl wir wussten, dass unsere beiden unauffälligen Schädel nicht in Gefahr waren, da sie die beliebte Nummer vollkommen ruiniert hätten.
    Wir krochen in unser Lieblingsversteck, eine Höhle im Gebüsch. Der Obdachlose, der hier früher genächtigt hatte, war seit dem Frühjahr nicht mehr aufgetaucht. »Vielleicht haben sie ihn … krrrk!« Bekka machte eine Bewegung an ihrem Hals.
    Aber das glaubte ich nicht. Ich vermutete, dass er irgendwo für das Reich schuftete; schließlich hörte man pausenlos, dass der Fü die Leute von der Straße holte und ihnen Arbeit schenkte. Der richtige Name des Fü wurde bei mir zu Hause nicht in den Mund genommen. Dafür hatte Mamu gesorgt: Wer ihn aussprach oder gar »Führer« sagte, musste einen Pfennig in ein Glas werfen; so würden wir von Zeit zu Zeit auf seine Kosten bei Cohn am Hermannplatz ein Eis essen gehen können. Allerdings waren erst wenige Pfennige in dem Glas, weil Papa und ich so selten Lust hatten, vom Fü zu reden.
    Erst in der Höhle, als wir einander gegenübersaßen, entdeckte ich, dass Bekkas Sprung in die Birke nicht gerade von einer sanften Landung gekrönt gewesen sein konnte. Sie hatte Schrammen im Gesicht und an den Armen, böse Schürfwunden in beiden Handflächen und in ihrem Haar hatten sich einige Zweige dermaßen festgekrallt, dass wir beim Entfernen kleine Büschel mit ausrissen. Bekka hatte langes weizenblondes Haar, auf das ich mit meinen widerspenstigen Zotteln, die weder ganz schwarz noch ganz blond waren, also eigentlich überhaupt keine besondere Farbe hatten, insgeheim ein wenig neidisch war. Gebückt kletterte ich hinter sie, um ihre verwüsteten Zöpfe neu zu flechten. Bekka machte sich nicht viel daraus, wie sie herumlief, aber ich liebte es einfach, ihr seidiges Haar anzufassen.
    Unbekümmert leckte sie sich Blut vom Arm, drehte sich halb um und grinste mich an. »Das war näher, als es aussieht! Ich hätte gar nicht so viel Schwung nehmen müssen!«
    »Auf jeden Fall halten wir uns besser eine Weile vom Hof fern«, meinte ich.
    Bekka stimmte mir zu. »Glaubst du, die Bergmann ruft wirklich die Polizei?«
    »Nein, sie rennt sicher nur zu Mamu, wie immer.«
    »Und wenn schon! Deine Mutter wird mit ihr fertig«, erwiderte Bekka, die Mamu sehr verehrte. Kein Wunder, sie musste ja auch nicht mit ihr zusammenleben!
    »Wen sie fertigmachen wird, bin wohl
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