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Liverpool Street

Liverpool Street

Titel: Liverpool Street
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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    Eine Freundin wie Rebekka Liebich würde ich nie wieder finden. Sie hockte auf dem schmalen Fensterbrett, eine Hand an den Rahmen geklammert, und hielt die andere ausgestreckt vor sich, als könne sie dadurch die fast anderthalb Meter Distanz verringern, die zwischen ihr und dem Stamm der Birke lagen. Ihr Gesicht trug einen Ausdruck höchster Konzentration.
    Ich selbst stand feige unten im Hof, drei Stockwerke tiefer, und hätte gern die Augen geschlossen, aber nicht einmal das brachte ich fertig. Ich starrte so hypnotisiert nach oben wie das Kaninchen auf die Katze. Diesmal hatten wir den Bogen überspannt! In nur wenigen Sekunden würde ich Zeugin des Todessprungs meiner besten Freundin werden. Ich konnte mir ausmalen, was meine Mutter dazu sagen würde. Die Prügel, die Bekka und mir von Richards kleiner Truppe drohten, sollten wir ihnen je wieder in die Hände fallen, erschienen mir auf einmal äußerst harmlos gegenüber dem, was mich erwartete, wenn Mamu mich zu fassen bekam.
    Meine Sorge steigerte sich noch, als ich sah, dass Bekka ihr Gewicht vom rechten auf den linken Fuß verlagerte. Ihr Sprungfuß war der rechte, das hatten wir extra vorher ausprobiert!
    Bekka gehörte nicht zu den Menschen, die irgendetwas dem Zufall überließen, schon gar nicht ihr eigenes Überleben. Sie war nicht auf das Fensterbrett geklettert, bevor sie nicht nachweislich einen Meter siebzig aus der Hocke heraus springen konnte.
    Ich kam sogar noch etwas weiter – zumindest in der Sandkuhle. Auf dem Fensterbrett hätte ich gehockt wie angeklebt. Keine zehn Pferde würden mich dazu bringen, in die Birke zu springen! Das wusste ich, und das wusste auch Bekka. Sie hatte von sich aus angeboten, den Anfang zu machen.
    Wenn sie abstürzt, muss ich nicht springen!, schoss es mir durch den Kopf. Beschämt legte ich einen Moment die Hand über die Augen, als müsste ich sie vor einer Sonne beschirmen, die an diesem grauen Septembertag des Jahres 1938 gar nicht erst zum Vorschein gekommen war.
    Jetzt! Bekka, die locker in den Knien zu federn begonnen hatte, nahm die linke Hand vom Fensterrahmen. Mein Herz trommelte mittlerweile so laut, dass mir die Ohren summten und ich das rasch näher kommende, markerschütternde Dröhnen um uns herum sekundenlang für das Platzen meines eigenen angsterfüllten Schädels hielt. Dabei war ich mit dem Lärm der Flugzeuge, die vom Zentralflughafen Tempelhof direkt über unsere Köpfe hinweg starteten, aufgewachsen. Bekka hielt sich ungeduldig wieder fest und wartete.
    Die Maschine entfernte sich schnell. Ich sah das kleine schwarze Hakenkreuz, das sich wie eine Spinne an die Tragfläche krallte. Deutschland im Aufwind! Auch an der wachsenden Zahl der Flugzeuge über unseren Dächern ließ sich das erkennen.
    Über meinen Kopf hinweg flog noch etwas: klein, mit langen blonden Zöpfen und so schnell, dass in einem Augenzwinkern alles vorbei war. Ein Krachen, ein Knistern, Zweige und trockene gelbe Blätter regneten auf mich herab, und schon hielt sich Bekka triumphierend im Geäst der Birke fest. Perfekt!
    Oh Gott, dachte ich. Jetzt bin ich dran!
    Im ersten Stock flog ein Fenster auf. »Seid ihr jetzt völlig verrückt geworden?«, kreischte jemand. Noch nie war ich so froh gewesen, die alte Keifziege Bergmann aus ihrer Küche hängen zu sehen. »Franziska Mangold und ihre nichtsnutzige Freundin! Ihr braucht gar nicht wegzurennen, ich habe euch gesehen!«
    Bekka kletterte flink wie ein Eichhörnchen aus der Birke. Auch das hatten wir vorher geübt. Wir kannten jeden einzelnen Ast an diesem Baum, der mir nur wenige Wochen später das Leben retten sollte. Beinahe wenigstens. Auf jeden Fall wäre alles anders gekommen, wenn Bekka an diesem Tag nicht in die Birke gesprungen wäre.
    »Verdammte Judengören!« Alle vier Hauswände im Innenhof warfen Frau Bergmanns ohrenbetäubendes Organ zurück. »Jetzt reicht’s! Ich rufe die Polizei! Springen die einfach in unseren schönen Baum!«
    Ich hörte noch weitere Fenster aufgehen. Das Wort »Juden«, zumal wenn es gebrüllt wurde, war zu diesem Zeitpunkt noch durchaus geeignet, Neugierige anzulocken. Dass die Leute wegsahen, rasch weitergingen, nichts wissen wollten, das kam erst später.
    Atemlos sprang Bekka direkt vor mir auf den Boden. Wir gaben Fersengeld. Die Bergmann, obwohl sie das sicher nicht beabsichtigt hatte, war schuld daran, dass ich noch eine Zeit weiterleben durfte.
    »Ziska, jetzt warte doch mal!«, keuchte Bekka hinter mir. Aber ich machte
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