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Liverpool Street

Liverpool Street

Titel: Liverpool Street
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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Laufen Boden gewinnt, ja, den Boden gar nicht mehr spürt, wenn Beine, Füße und Boden eins werden. Wenn sich ein eben noch ängstliches Mädchen in wenigen rauschhaften Sprüngen in ein uneinholbares Flügelwesen verwandelt, vergleichbar nur noch mit Jesse Owens, dem schwarzen Olympiasieger, der zwei Jahre zuvor sämtliche Kandidaten der angeblichen Herrenrasse einfach hinter sich gelassen hatte! Jesse Owens war mein Held. Als Mamu mir mitgeteilt hatte, dass wir demnächst einen zweiten Vornamen würden annehmen dürfen, hatte ich wie aus der Pistole geschossen geantwortet: »Dann will ich Jesse heißen! Franziska Jesse Mangold!«
    Leider hatten andere für mich entschieden. Ich würde Sara heißen, genau wie Mamu, wie Bekka und ihre Mutter, wie meine Mitschülerinnen und Lehrerinnen an der jüdischen Schule. Wir alle bekamen denselben Vornamen. Was das sollte, konnte mir niemand erklären – und auch nicht, warum den Nazis niemand gesagt hatte, dass Saras Mann in der Bibel Abraham hieß und nicht Israel. Jetzt mussten die jüdischen Männer mit dem falschen Vornamen herumlaufen.
    Ich widmete meinen Lauf Jesse Owens und das brachte mir Glück. Auch ohne mich umzusehen, merkte ich, dass der Abstand zwischen mir und meinen Verfolgern sich zusehends vergrößerte. Ich stieß einen wilden Triumphschrei aus, rannte um die Kirche herum und hätte beinahe den älteren Mann umgeworfen, der plötzlich von seiner Bank aufstand und mitten auf meine Kampfbahn trat.
    »Festhalten! Sie ist Jüdin!«, kreischte Richard auch schon. Der Mann reagierte tatsächlich, breitete die Arme aus und machte ein paar halbherzige Hüpfer auf mich zu. Aber Franziska Jesse Mangold ist nicht zu halten! Ein eleganter Schlenker nach außen reicht ihr, um ihre Verfolger hinter sich zu lassen. Und es ist unglaublich, meine Damen und Herren, diese begnadete junge Läuferin ist noch in der Lage, ihr Tempo zu steigern!
    Ich bog in die Zielgerade ein. Der gewölbte Hauseingang, den ich ansteuerte, befand sich auf unserem Survival Plan ganz oben in der Ecke, denn er lag schon fast nicht mehr in unserem Viertel. Bekka und ich hatten das Haus im Frühjahr entdeckt, kurz nach unserem legendären ersten Zusammenstoß mit Richard und seiner Truppe. Die Einfahrt stand immer offen, da sie zu einer Schlachterei im Hinterhof führte. Bekka würde begeistert sein, wenn sie erfuhr, dass das Versteck endlich zum Einsatz gekommen war.
    Ich überquerte die Straße und verschwand in dem Eingang. »Da drüben ist sie! Hinterher!«, hörte ich in meinem Rücken rufen – schon ziemlich außer Atem, wie ich zufrieden bemerkte. Ich huschte die Kellertreppe hinunter und fand mich in einer langen, niedrigen Röhre wieder, die nach rechts und links in die kleinen, mit Holzgittern verschlossenen Nischen führte, die den Bewohnern des Hauses als Vorratsräume dienten.
    Die Nische mit der Nummer 8 lag ganz hinten im linken Gang. Ich drehte das Licht an – Richard und die anderen würden es ohnehin tun, wenn sie hinter mir herkamen – und lief durch den Gang. Es roch nach Mauerwerk und Mäusedreck. Just in dem Moment, als Richard, August und Eberhard – wie immer in dieser Reihenfolge – am Fuße der Kellertreppe angelangt waren, verschwand ich in der Dunkelheit von Nische Nummer 8.
    »Jetzt sitzt du in der Falle, Judensau!«, höhnte Richard und kommandierte leise: »August, du gehst nach rechts, Eberhard und ich nach links!«
    »Wieso denn ich alleine? Eberhard soll mit mir gehen«, protestierte August. Seine Stimme nahm einen hohen, nahezu weinerlichen Ton an. Nicht zu fassen, dieser tapfere junge Arm des Führers fürchtete sich vor Kellern! Dabei musste ich mir ehrlich eingestehen, dass ich es selbst ein wenig gruselig fand, obwohl ich schon mehrmals hier unten gewesen war.
    »Hört sofort auf zu heulen, ihr Weichlinge und haut ab!«, zischte Richard.
    Ich hörte Schritte in meine Richtung kommen. Ein einziges Paar Schritte. Er hatte seine Freunde in die Gegenrichtung geschickt und kam allein. Eine Kellertür flog auf und knallte gegen ein Regal. Einmachgläser schepperten. Ein kurzes gelbliches Aufflackern, als Richard das Licht in dem kleinen Raum einschaltete und sich umsah. Ein leises Klacken, als der Lichtschalter wieder ausgedreht wurde.
    Nun galt es, keine Zeit mehr zu verlieren. Ich tastete mich zur hinteren Wand, wo der Durchgang war. Zielsicher fuhren meine Hände am Mauerwerk entlang. Da stand der Schrank und gleich daneben …
    Au! Was war das?
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