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Liverpool Street

Liverpool Street

Titel: Liverpool Street
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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Richard hinweg auf einen der Balkons werfen. Er erschrak, der Kopf zuckte nach oben, die Arme auch. Da legte ich meine ganze Wut in meinen Wurf und knallte ihm seinen Ball mitten ins Gesicht.
    Wo bist du, Bekka? Es tut mir leid, ich hab’s vermasselt … den Eingang an der Schlachterei können wir streichen … und bei den anderen Verstecken müssen wir unbedingt nachsehen, ob sie noch so aussehen, wie wir sie vorgefunden haben, damit wir beim nächsten Mal … beim nächsten Mal … beim nächsten Mal …
    Ich lag auf der Seite, etwas brummte an meinem Mund. Eine dicke Fliege ging auf meiner Unterlippe spazieren und probierte mal hier, mal dort. War ja genug Blut da. Schon fast getrocknet. Wusste gar nicht, dass das so klebt. War überhaupt noch was heil an mir? Beweg mal den Arm, Ziska. Hast ganz schön was abbekommen. Zähne noch drin?
    Langsam aufsetzen, an die Hauswand gelehnt. Im ersten Stock hatte jemand zugeguckt, aber die ließen mich in Ruhe. Der zweite Schuh liegt dort drüben, beim Weggehen nicht vergessen.
    »Ziska? Kannst du aufstehen?«
    Ein längliches, blasses Gesicht tauchte wie aus dem Nebel vor mir auf. Es musste ihn große Überwindung gekostet haben, in die fremde Einfahrt zu kommen – Ruben Seydensticker gehörte nicht gerade zu den mutigsten Menschen, die ich kannte. Er nahm meine beiden schlaffen Arme und half mir aufstehen.
    Auf meinen Füßen herumschwanken traf es besser. Ich hing vornübergebeugt an seiner Schulter und sah das blutgesprenkelte Kopfsteinpflaster vor mir verschwimmen. »Ich nehm dich besser mit nach Hause«, murmelte Ruben. »Ist nicht weit.«
    »Nei lassma gehscho«, nuschelte ich an meiner pochenden, geschwollenen Unterlippe vorbei, die kein klar verständliches Wort mehr formen konnte. Meine Füße hingegen taten ihren Dienst und schlurften gehorsam rechts, links, rechts, links neben Ruben her. Nach zwei Metern brachte er uns noch einmal zum Stehen, lehnte mich an die Hauswand, hob meinen Schuh auf und zog ihn mir an.
    Allmählich sortierten sich auch meine anderen Körperteile und meldeten sich glühend heiß an den Stellen zurück, wo sie hingehörten. Der Schmerz tobte durch meine linke Schulter, meine Arme, meinen Hinterkopf, vom gesamten Unterleib ganz zu schweigen, und als wir drei, vier Schritte gegangen waren, musste er wohl einfach heraus. Ich kotzte Ruben direkt über die Schuhe.
    »Macht nichts. Komm einfach weiter«, sagte er tapfer.
    Ich schämte mich so sehr, dass ich anfing zu heulen. So kamen wir bei ihm zu Hause an. Seine kleine Schwester öffnete, schrie nur: »Mama!«, dann rannte sie entsetzt zur Seite davon und Ruben schleppte mich in die Küche.
    Seine Eltern, die am Tisch gesessen hatten, sprangen auf. »Oi!«, entfuhr es Frau Seydensticker, gefolgt von einem Schwall seltsamer Laute, die deutsch klangen und doch wieder nicht. Aha, dachte ich matt. Seydenstickers wollen also auch auswandern!
    Welche Sprache sie in dieser Familie wohl lernten? Im Stillen fing ich an, alle Länder aufzuzählen, von denen ich wusste, dass sie noch Juden aufnahmen. Argentinien, Chile, Uruguay, Paraguay … Nicht, dass das im Moment wirklich von Interesse für mich gewesen wäre, doch auf dem ganzen Weg zu Rubens Haus hatte ich nichts anderes getan als auszuprobieren, ob mein Kopf irgendeinen Schaden davongetragen hatte. Ich heiße Ziska Mangold, geboren am 19. Februar 1928 und wohnhaft Hermannstraße 88, Vorderhaus, 3. Stock … Ich konnte nicht lange ohne Bewusstsein gewesen sein, aber ein kleiner Teil meines Lebens lag jetzt im Dunkeln und das reichte, um mir fürchterliche Angst zu machen.
    Rubens Vater legte mich vorsichtig auf die Küchenbank. Sein Vollbart kitzelte an meinem Arm und auf seinem Kopf saß wie angeklebt eine kreisrunde flache Kippa.
    »Das ist Ziska aus meiner Klasse«, sagte Ruben, womit er mich gleichzeitig vorstellte und meinen Zustand erklärte, denn niemand stellte auch nur eine einzige Frage. Seydenstickers waren richtige Juden, sie waren Angriffen auf der Straße viel häufiger ausgesetzt als ich, der man es nicht ansah. Auf eine jüdische Schule zu gehen und verprügelt zu werden, gehörte in ihren Augen wohl irgendwie zusammen.
    Ich lag auf der harten Küchenbank, einen nassen Lappen auf der Stirn. Behutsame Hände verpflasterten meine Arme, meine Beine. »Wir müssen dich richten a bissel her, bevor wir rufen deine Mutter«, sagte Frau Seydensticker mit wunderschön rollendem Rrr. Sie trug einen weiten braunen Kittel und
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