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Liverpool Street

Liverpool Street

Titel: Liverpool Street
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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Schmerzhaft schrammte mein Arm an einer rauen Holzkante entlang. Der Schreck war so groß, dass mir augenblicklich der Schweiß ausbrach. Mit fliegenden Händen tastete ich den großen schweren Gegenstand ab, der mir im Weg stand. Es war ein Vorratsregal! Verzweifelt versuchte ich die lähmende Angst niederzuringen, die in Sekundenschnelle von den Beinen bis in meinen Kopf schoss. Nur ruhig! Du bist im falschen Keller! Geh zurück zur Tür! Wenn Richard in den nächsten Keller schaut, schlüpfst du in Nummer 8!
    Ich huschte zur Tür zurück, mein Herz sprang beinahe durch den Hals. Richard war vorne an der Nummer 4, jetzt ging er hinein und drehte das Licht an. Ich trat einen Schritt aus meinem Verschlag, um eine Tür weiterzuschlüpfen.
    Aber es gab keinen weiteren Keller. Ich war in der Nummer 8! Wo der freie, ungehinderte Durchgang zum Keller des Nebenhauses hätte sein müssen, hatte irgendein Idiot ein Regal aufgestellt!
    »Da ist sie!«, hallte es durch den Gang. August und Eberhard hatte ich völlig vergessen. Sie mussten vom anderen Ende des Gewölbes aus gesehen haben, wie ich aus meinem Versteck getreten war, ungläubig die Acht auf der Tür betrachtete und wieder hineinschlüpfte.
    Kopflos stürzte ich im Dunkeln auf das Regal zu, kniete nieder und suchte mit beiden Händen ein Fach. Dosen, Gläser, Flaschen, alles, was ich zu fassen bekam, schleuderte ich zur Seite und kroch mit halbem Oberkörper hinein, um mit der rechten Hand weit nach hinten zu tasten.
    Meine Hand schlug ins Leere. Das war meine Rettung. Das Regal hatte keine Rückwand! Die Schulter voran, quetschte ich mich in das unterste Fach, rollte zur Seite, zerrte und schob mit Armen und Beinen und machte dabei einen solchen Krach, dass ich nicht einmal sagen konnte, ob Richard und sein Trupp inzwischen in Nummer 8 angekommen waren. Womöglich hielten sie sogar meine Beine fest!
    Die Vorstellung reichte, um mir Bärenkräfte zu verleihen. Mit einem letzten verzweifelten Tritt befreite ich mich und plumpste auf der anderen Seite, wo der Gang fast einen halben Meter tiefer im Keller des Nachbargebäudes weiterging, unsanft mit dem Rücken auf den kalten Beton. Es war stockdunkel, aber das Kratzen, Scharren und Ächzen im Regal zeigte mir, dass sich Richard bereits hindurcharbeitete.
    Beide Hände von mir gestreckt, lief ich mit aufgerissenen Augen in die Dunkelheit hinein. Ich zählte meine Schritte … siebzehn, achtzehn, neunzehn … war hier noch der alte Aufgang? Ja, diesmal hatte ich Glück. Ich fiel die ersten Stufen der Kellertreppe hinauf, kroch auf allen vieren weiter und fand nach wenigen Metern die rettende Tür in den Nachbarhof. Mit weichen Knien taumelte ich ins Freie, knallte die Tür zu und ergriff quer über den Hof die Flucht.
    Oder hätte es besser tun sollen. Stattdessen blieb ich plötzlich wie angewurzelt stehen. Denn mitten in der Hauseinfahrt, durch die ich die Jungen in den Keller gelockt hatte, lag Richards Ball. Er hatte ihn abgelegt, um für mich die Hände frei zu haben.
    Wie konnte er nur? Sein Vater war Schienenarbeiter, lange arbeitslos gewesen, und dieser alte Fußball war das Kostbarste, was Richard besaß! Nie hatte ich erlebt, dass er ihn aus den Augen ließ. Er wusste, dass in diesen Straßen Kinder lebten, die alles gegeben hätten für einen solchen Ball. Aber jetzt lag der Ball auf der Straße. Jetzt war ihm etwas anderes wichtiger gewesen. Richards Hass auf mich musste unvorstellbar groß sein.
    Etwas in mir sagte: Lass es gut sein, Ziska! Aber anstatt das einzig Vernünftige zu tun und so schnell wie möglich zu verschwinden, blieb ich stehen und sah nur noch den Ball.
    Und auf einmal ergriff mich Wut, eine Wut, wie ich sie noch nie in meinem Leben verspürt hatte. Dieser blöde, abgewetzte Ball rief mit einem Schlag all die Dinge in Erinnerung, an die ich auf keinen Fall hatte denken wollen. Die Geburtstagsfeier, bei der Richard den Ball damals bekommen hatte. Das Spiel mit der Flasche, bei dem man kleine Aufgaben erfüllen musste. Der Nächste, auf den der Flaschenhals zeigt, muss jemanden küssen! Die Flasche dreht sich, dreht sich langsamer, bleibt stehen und zeigt auf Richard. Und Richard lacht, steht, ohne zu zögern, auf, kommt quer durch den Kreis der Kinder auf mich zu und küsst mich mitten auf den Mund. Ganz lieb schaut er mich dabei an und es macht ihm gar nichts aus, dass die anderen johlen: »Richard und Ziska, Richard und Ziska …«
    Ich wurde längst nicht mehr auf
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