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Liverpool Street

Liverpool Street

Titel: Liverpool Street
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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Geburtstagsfeiern eingeladen. Die Kinder, die damals dabei gewesen waren, hatten schon wenig später angefangen, mich auf dem Schulhof zu schubsen, meinen Ranzen in den Dreck zu treten und mir die Pausenbrote abzunehmen. Aber Richard, Richard war doch mein Freund gewesen.
    »Stimmt das, Ziska?«, hatte er mich mit gesenkter Stimme gefragt. »Deine Eltern sind … ihr seid … Juden …?«
    »Nee«, hatte ich erwidert. »Papa ist Rechtsanwalt.«
    »Bist du sicher?«
    »Na klar, das weißt du doch!«
    Stirnrunzeln. »Aber meine Mutter hat gesagt, dass ihr Juden seid.«
    »Soll ich meine Mutter mal fragen?« Ich konnte sehen, wie ihn die Sache beschäftigte. »Ich sage dir dann morgen Bescheid.«
    Mit unbewegtem Gesicht hatte er sich am nächsten Tag auf dem Schulhof aufgebaut und zugehört, wie ich die Erklärung meiner Mutter wiedergab. Ja, wir waren tatsächlich jüdischstämmig, und dass ich bisher nichts davon mitbekommen hatte, lag einfach daran, dass alle vier Großeltern schon im vorigen Jahrhundert zum Protestantismus übergetreten waren. Deshalb ging ich ja auch mit in den evangelischen Religionsunterricht, glaubte an Jesus und würde mit Richard zusammen konfirmiert werden. Alles klar?
    Die anderen Kinder standen um uns herum, niemand sagte etwas. Richard trat von einem Bein aufs andere und ich merkte, dass er mit dieser Information genauso wenig anzufangen wusste wie ich. Ich für meinen Teil konnte weder sagen, was »jüdisch« genau bedeutete, noch warum es auf dem Schulhof irgendeine Rolle spielen sollte.
    »Iiih! Der Richard hat ’ne Jüdin geküsst!«, schrie plötzlich der dicke Roland.
    In der nächsten Sekunde lag er auch schon heulend am Boden, denn Richard hatte ihm einen astreinen Haken verpasst. Ein Murmeln erhob sich unter den Kindern, die jetzt vorsichtshalber ein kleines Stück zurücktraten. Ein Halbkreis bildete sich um Richard, Roland und mich. Voller Stolz reckte ich das Kinn und blickte mich herausfordernd um. Das war viel besser als ein Kuss! Das war das erste Mal, dass sich jemand für mich geschlagen hatte!
    Richards Gesicht war blutrot angelaufen, er beugte sich über Roland und packte ihn am Pullover. »Sag das nicht noch mal!«, brüllte er. »Ich wusste nicht, dass sie Jüdin ist, verstanden? Sie hat’s mir nicht gesagt!«
    Dann ließ er Roland los. Der fiel zurück in den Staub und hob in einer beschämenden, flehentlichen Geste beide Arme vors Gesicht. »Alles klar, Richard, alles klar!«, winselte er.
    Richard trat einen Schritt zurück und sah wieder auf mich, und ich konnte es einfach nicht glauben. Alles Schöne war aus seinem Gesicht verschwunden. Da war nichts als eine harte Maske, die mich voller Zorn und Verachtung anstarrte.
    Das war nicht mehr Richard. Das war so schrecklich, dass mein Lächeln gar nicht mehr verschwinden wollte.
    »Du hättest es mir sagen müssen!«, herrschte er mich an.
    »Aber Richard … wieso …?«, brachte ich heraus.
    Dann sah ich nur noch sein vorgerecktes Kinn, seine hellen Augen, die schnelle harte Bewegung, mit der er mir einen Stoß versetzte. »Hör auf zu grinsen!«, knirschte er.
    Ich lag auf dem Rücken neben dem dicken Roland, der so schnell von mir wegkrabbelte, als hätte ich eine ansteckende Krankheit. Ich blinzelte zu Richard hinauf. Ich lächelte immer noch. Er gab mir einen Tritt und ging davon.
    Jemand spuckte neben mir aus. Ich sah die Sonne, die sich im Klettergerüst brach. Weiter oben tanzten Schwalben vorbei. Ganz hoch am Himmel stand eine einzelne hellgraue Wolke direkt über uns und sah aus wie eine Schildkröte oder ein kleines Auto.
    »Jetzt haben wir dich, Judensau!«
    Richard, der mir durch den zweiten Keller gefolgt war, kam von hinten auf mich zu, August und Eberhard von vorn. Ich stand zwischen ihnen mit dem Ball in der Hand, es konnten erst wenige Augenblicke vergangen sein, seit ich aus dem Keller gekommen war. Die wenigen Augenblicke, die mir jetzt fehlten, um zu entkommen.
    »Lass den Ball fallen!«, zischte Richard. Er hatte die Fäuste geballt. Das Gefühl, wie sie auf mich niedersausen, kannte ich schon. Es hatte Bekka und mich dazu gebracht, ein halbes Jahr fast nichts anderes zu tun, als unser gesamtes Viertel nach Fluchtwegen zu durchkämmen.
    »Hol ihn dir doch!« Trotz unserer letzten Begegnung gab es da eine kleine Stimme in mir, die flüsterte: Die werden doch nicht drei gegen einen …! Gegen ein Mädchen …!
    Sie stürmten auf mich los. Ich holte aus, als wollte ich den Ball über
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