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Liverpool Street

Liverpool Street

Titel: Liverpool Street
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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eher ich«, prophezeite ich düster. Eine Mischung aus Mamu und der sanften Frau Liebich, das wäre in meinen Augen ideal gewesen. Vielleicht konnten Bekka und ich ja mal für einige Wochen Mütter tauschen. Am liebsten noch heute Abend.
    Meine Freundin zog ihren rechten Schuh aus, nahm die Sohle heraus und knibbelte ein schon ziemlich grün angelaufenes Blatt Papier darunter hervor – unseren Survival Plan , wie Bekka es nannte, die zusammen mit ihren Eltern und ihrem Bruder seit zwei Jahren Englisch lernte. Liebichs würden nämlich in Kürze nach Amerika auswandern. Sie waren schon so gut wie dort, warteten nur noch auf Antwort von einer Kusine, die drüben reich verheiratet war und mühelos für die Liebichs würde bürgen können.
    Ich mochte es nicht, wenn Bekka Englisch sprach – nicht nur, weil ich dann kein Wort mehr verstand, obwohl auch ich seit Ende der Sommerferien mit dieser Sprache geplagt wurde. Nein, jedes englische Wort erinnerte mich vielmehr daran, dass ich bald auch noch meine letzte, meine beste Freundin verlieren würde. Die Reihen der Kinder in der jüdischen Schule lichteten sich; ich wusste Renate in England, Jakob in Amerika, Lore bei einem Onkel in Schweden. Auch Lehrer verschwanden, verkauften ihre Habe, wanderten aus. Man wusste nie, wer in der kommenden Woche noch da sein, wer uns worin unterrichten würde.
    »Verrückt«, sagte mein Vater. »Ihr werdet sehen, nächstes Jahr ist der ganze Spuk vorbei, und dann sitzen sie in Kuba und Chile und Argentinien und haben alles verloren!«
    Aber das deutsche Wort Überlebensplaner klang wirklich zu hochgestochen; handelte es sich bei dem platt getretenen Stück Papier in Bekkas Schuh doch lediglich um eine winzige, selbst gekritzelte Karte unserer besten Verstecke und Fluchtwege im Viertel. Die Zunge zwischen die Zähne geklemmt, malte Bekka einen Baum an die entsprechende Stelle in Planquadrat B2 und schrieb »3. Stock, Ziskas Zimmer« daran. Dann faltete sie das Papierchen zusammen und steckte es in den Schuh zurück.
    »Erinnere mich daran, dir die Karte dazulassen, wenn wir abreisen«, setzte sie hinzu. Als ob sie die Karte, die ihr ganzer Stolz war, vergessen würde.
    Ich weiß noch, dass ich mir auf dem Weg hinauf in unsere Wohnung sehr viel Zeit ließ. Als sähe ich das alles zum ersten Mal, studierte ich die geschnitzten Ornamente an den Wohnungstüren, die Glasmalereien an den Flurfenstern. Vielleicht bin ich ein kurzes Stück das Treppengeländer wieder heruntergerutscht. Obwohl das ziemlich unwahrscheinlich ist, denn was schon den arischen Kindern des Hauses verboten war, durfte ich mir umso weniger erlauben. Nicht auszudenken, wenn die Bergmann gerade in dem Moment die Nase aus der Tür gesteckt hätte! Mit meinen jüdischen Händen wagte ich das Geländer nicht einmal anzufassen, wenn jemand in der Nähe war. Nicht, dass ich je von einem entsprechenden Verbot gehört hatte, aber man konnte ja nie wissen. Am Sonntag sitzt du noch fröhlich mit deinen Eltern auf der Parkbank, und am Montag, peng, ist es schon verboten. Wie der ganze Park: »Für Juden und Hunde verboten«. Nein, es ist eher unwahrscheinlich, dass ich das Treppengeländer heruntergerutscht bin.
    Sicher ist nur, dass mir auf dem Weg nach oben Christine und ihre Mutter entgegenkamen. Christines Mutter sah weg, als habe ihr ein besonders unansehnlicher Bettler die Hand entgegengestreckt, dabei drückte ich mich schon regelrecht an der Wand entlang, um ihnen möglichst wenig Platz wegzunehmen. Christine lächelte mich an, ganz schnell, sodass ihre Mutter es nicht mitbekam. Das machte sie immer noch, obwohl wir kein Wort mehr miteinander gewechselt hatten, seit Beamte nebst ihren Familien nicht mehr in die Nähe von Juden kommen durften. Vorher war ich oft bei ihnen in der Wohnung gewesen oder Christine bei uns. Sie war nett. Ich lächelte zurück. Eine kleine Verschwörung, immerhin.
    Unter meinem Pullover fingerte ich die Schnur mit dem Wohnungsschlüssel hervor, schloss auf und war in Sicherheit. Unsere Wohnung – geräumig, hell, wunderschön mit ihren stuckverzierten Decken – war der Ort, an dem die Welt draußen aufhörte zu existieren. Bis auf einige kleinere Lücken an den Wänden, wo Bilder fehlten, die meine Eltern in letzter Zeit hatten verkaufen müssen, sah alles so aus, wie ich es mein ganzes Leben lang gekannt hatte und wie es unverändert bleiben würde, zweifellos. Ein großzügiger Flur führte nach rechts in drei ineinander übergehende
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