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Liverpool Street

Liverpool Street

Titel: Liverpool Street
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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Schule, aber eins der Ruinengrundstücke am unteren Ende des Harrington Grove steht zum Verkauf und Amanda und Matthew haben uns das Geld angeboten, das erst für Garys, dann für meine College-Ausbildung vorgesehen war. Ja gesagt haben wir noch nicht, aber Walter und Matthew planen und zeichnen bereits eifrig an einem kleinen zweigeschossigen Haus mit Kinderzimmern, einem Garten, Sandkasten und Schaukel.
    Der Kapitän, der uns so aufmerksam beobachtet, wäre sicher überrascht, wenn er wüsste, auf welche Weise die Familie zusammengewürfelt worden ist, die er heute an Bord hat! Dass Matthew und Walter ihre Tallitim anlegen und leise zu beten beginnen, als er ihnen sagt, dass wir bald am Ziel sind, erstaunt ihn auf jeden Fall. Es waren wohl nicht viele Juden in der Navy.
    Ganz groß und rund werden die Augen des Mannes aber, als Walter sein »Military Cross« von der Uniform abnimmt und mir gibt, damit ich es in den Kranz einbinde.
    »Bist du sicher?«, fragt auch Amanda leise.
    »Ganz sicher«, erwidert er lächelnd. »Darauf habe ich mich seit Jahren gefreut.«
    Becky muss nun noch einmal alles anfassen und erfahren, obwohl sie die Geschichten hinter den Dingen längst kennt: die des abgegriffenen kleinen Wörterbuchs zum Beispiel, das ihre Mummy vor langer Zeit mit nach England gebracht hat, oder des zarten Streifens weißer Spitze, der aus ihrem Brautschleier stammt. Da sind der Schlüssel zu einem besonderen Raum im Elysée und ein Schnuller mit einem kleinen Loch von Beckys erstem Milchzahn. Und aus Ammas Garten kommen all die bunten, selbst gezogenen Herbstblumen im Kranz; sie hat sie im Flugzeug in einer Kassette feucht gehalten und beim Gang durch den Zoll richtig lange den Atem angehalten aus Furcht, ihren Koffer aufmachen zu müssen!
    Aber als wir endlich am Ziel sind, ist der Kranz vergessen, hält sich Becky auf Zehenspitzen an der Reling fest und späht mit gefurchter Stirn so stumm, ernst und ausdauernd ins Wasser, als könne sie das Schiff erkennen, das in zweitausend Metern Tiefe unter uns liegt.
    Es ist sehr still hier draußen auf hoher See, leise flüstern kleine Wellen an der Bordwand und ich höre, wie Matthews weiche Stimme sich mit der endlosen Weite des Meeres und dem Atem des Windes vereint: »Erhoben und geheiligt werde sein großer Name in der Welt, die er nach seinem Willen erschaffen hat, und sein Reich erstehe, und es blühe auf seine Hilfe …«
    Ich sehe, wie Amanda sich hinunterbeugt und mit Becky flüstert, zwei Worte nur, aber das Kind hat schon verstanden. Gemeinsam nehmen sie unseren Kranz und lassen ihn sacht über den Rand des Bootes ins Wasser gleiten, und sofort danach greift Becky nach der Hand ihrer Amma und drückt sich fest an sie, als wolle sie jetzt auch die Traurigkeit teilen.
    »Das ist für dich, Gary, mein Liebling«, flüstert Amanda, was nicht ganz das ist, was sie an dieser Stelle eigentlich hatte sagen sollen.
    Matthew tut es für sie. »Gary Aaron Shepard«, sagt er mit klarer, lauter Stimme.
    »Paul Glücklich.« Das kommt von Walter, etwas leiser.
    »Lotte Glücklich.«
    »Franz Mangold.«
    »Ruth Bechstein.«
    »Eva Bechstein.«
    »Betti Bechstein.«
    Einen Moment glaube ich, nicht weitersprechen zu können. Aber Walter tritt dicht an mich heran und ich spüre ihn in meinem Rücken, so wie damals, als wir unsere erste Schiffsreise machten, eine stürmische Überfahrt, als wir noch Kinder waren.
    »Rebekka Liebich.«
    »Susanna Liebich.«
    »Hermann Liebich.«
    »Julius Schueler.«
    »Frank Duffy.«
    »Ruben Seydensticker.«
    »Chaja Seydensticker.«
    Meine Stimme wird fester. All diese Namen, die endlich gesprochen sein wollen! Von den Seydenstickers und ihrer großen Familie, deren Geschichte bis ins 17. Jahrhundert zurückreicht, wird es nie wieder eine andere Spur geben als meine Stimme.
    »Benjamin Seydensticker.«
    »Jakob Seydensticker.«
    »Beile Seydensticker.«
    »Herschel Seydensticker …«
    Unser kleiner Kranz treibt mit den Wellen davon, kommt noch einmal ein kurzes Stück zurück, als suchte er nach der richtigen Stelle, dann beginnt er rasch zu sinken. Aus den Augenwinkeln sehe ich, dass der Kapitän seine Mütze abgenommen hat, und wie zu Beginn unserer Reise fühle ich mich ihm plötzlich sehr nahe.
    Wir gehören zu denen, die mit den Toten leben. Sie verlassen sich auf uns.
    Solange ich eine Stimme habe und solange es jemanden gibt, der mir zuhört, werde ich ihre Namen nennen, unsere Geschichte erzählen:
    Eine Freundin wie Rebekka
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