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Liverpool Street

Liverpool Street

Titel: Liverpool Street
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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ansprach, bereute ich es sofort. Sie warf uns einen so hasserfüllten Blick zu, dass Amanda und mir ein längst vergessener, demütigender Schrecken in die Glieder fuhr.
    »Wir kommen aus England. Wir sind Juden«, versicherte ich hastig, aber der Schaden war angerichtet und auf Englisch und Französisch reagierte die misstrauische Frau nicht. In unserem schäbigen, dunklen Zimmer setzten wir uns erst einmal aufs Bett und atmeten tief durch.
    »Ich werde kein einziges Wort Deutsch sprechen, solange ich in Holland bin!«, erklärte ich erschüttert. »Lieber sollen sie mein Englisch nicht verstehen, als mich noch einmal so anzustarren!«
    Wir packten unsere wenigen Reisekleider aus und legten uns der Länge nach aufs Bett. Bis zum Treffen mit Mamu und Onkel Erik waren noch über zwei Stunden Zeit, und da wir England sehr früh am Morgen verlassen hatten, stellte sich langsam Müdigkeit ein. Nur die sich steigernde Aufregung hielt mich wach, und wohl auch ein wenig der Gedanke, dass dies die letzten Stunden waren, die Amanda und ich für uns hatten. Sie nahm mich ganz selbstverständlich in den Arm und ich fühlte ihre Traurigkeit und Freude, am Ziel zu sein. Keine von uns redete. Wir hatten uns alles gesagt, was wichtig war, und ich behielt für mich, was ich dachte: Nie wieder werde ich mit einem anderen Menschen solche Vertrautheit erleben. So etwas gibt es, wenn überhaupt, nur ein einziges Mal im Leben.
    Onkel Erik ging mit großer Umsicht vor. Zwei, drei Stunden hatte er für unsere erste Begegnung veranschlagt, dann sollte jeder erst einmal zurück in seine Unterkunft kehren und sich ausruhen können. Am nächsten Vormittag würden wir uns wieder treffen – »und dann sehen wir weiter«. Ich war verwundert, aber auch sehr froh über seine Vorsicht. Schließlich wusste er jetzt am besten, was man meiner Mutter zumuten konnte.
    Je näher Amanda und ich dem vereinbarten Platz kamen, wo wir uns treffen wollten, desto nervöser wurde ich. Zwischen meinen Rippen drückte und kribbelte es, und als ich den Mund aufmachte, um zu verkünden: »Ich glaube, da vorne ist das Café!«, erkannte ich meine Stimme nicht wieder. Sie bewegte sich auf einem einzigen Ton, und der war praktisch eine Oktave höher.
    »Wir sind zu früh«, klagte ich, als wir uns an einen der drei kleinen Tische gesetzt hatten, die auf dem Pflaster vor dem Café standen. Eine ältere Frau kam hinaus, sah uns neugierig an und erklärte, sie habe Blechkuchen, Malzkaffee und Tee. Umständlich machten wir ihr auf Englisch klar, dass wir noch auf zwei weitere Personen warteten.
    »Meinst du, sie haben drinnen eine öffentliche Toilette?«, fragte ich zaghaft, kaum dass die Frau wieder verschwunden war.
    »Bestimmt. Frances, du bist ja ganz weiß.« Amanda sah mich beunruhigt an. »Herrje«, sagte sie leise. »Ist es denn so schlimm? Du hast es doch gleich geschafft. Nur noch wenige Minuten, Schatz. Das Ende der Reise.«
    Tränen schossen mir in die Augen, ich sprang auf und stolperte über die Straße ins Innere des Cafés, wo zwei Männer mit Zeitungen saßen und mich verwundert ansahen. Die ältere Frau kam auf mich zu, ein liebes, rundes, blasses Gesicht. Ob es mir gut gehe. Ob sie mir ein Glas Wasser bringen könne. Durch einen Schleier von Tränen blickte ich sie an, vergaß all meine Vorsätze und stammelte auf Deutsch: »Ich warte auf meine Mutter. Wir sind Juden. Ich habe sie seit fast sieben Jahren nicht gesehen.«
    Einen Augenblick lag solche Stille über dem Raum, dass ich fürchtete, alles verdorben zu haben. Gleich würde sie mich hinauswerfen. Erschrocken blinzelte ich die Tränen fort … und blickte in freundliche Augen.
    »Sie können hier sitzen, gleich am Fenster, dann sehen Sie sie kommen.«
    Sie schob mir den Stuhl zurecht, durch graue Fensterscheiben sah ich hinaus auf den Platz. Er hatte einen steinernen Brunnen, wie unser alter Treffpunkt in Tail’s End. Himmel, wo sollte ich bloß anfangen, meiner Mutter mein Leben zu erzählen?
    Einige Tauben landeten neben Amandas Tisch und pickten hoffnungsvoll um sie herum. Sie saß so still, dass ihr die Vögel über die Schuhe hüpften. Ihren gelassenen, fast heiteren Gesichtsausdruck kannte ich gut: von Fliegeralarmen, Bombenangriffen, Verabschiedungen von Gary. Amanda sah immer so aus, wenn sie Angst hatte.
    Was mache ich hier?, dachte ich reuevoll. Ich gehe wieder hinaus, ich kann sie doch nicht alleine da sitzen lassen …
    Und dann: Amandas Lächeln, der kurze Ruck, der durch ihren
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