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Liverpool Street

Liverpool Street

Titel: Liverpool Street
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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immer noch, jedes einzelne Mal, wenn er hinausfuhr auf See, war er dankbar, dass er keinen seiner Männer verloren hatte. Das war der Grund, warum er nicht aufhören konnte. Er schuldete es all denen, die nicht so viel Glück gehabt hatten.
    Mein Spezialauftrag, dachte er mit leisem Spott, aber auch einem Anflug von Demut, denn er spürte dessen Gewicht. Wann immer er den Angehörigen erklärte, dass die See sein Leben war, dass er kein schöneres Grab wisse als dieses und selbst kein anderes würde haben wollen, konnte er beobachten, wie die Vorstellung in ihren Gesichtern an Schrecken verlor. Es war sein letzter Tribut an die Männer dort unten, dass er ihren Familien ein wenig Frieden schenkte.
    In kurzen Abständen ließ der alt gewordene britische Kapitän des kleinen Charterbootes seinen Blick über die Passagiere schweifen. Die Männer standen an der Reling, das Kind sicher zwischen ihnen, die beiden Frauen hatten begonnen, am Tisch im Heck des Bootes einen Kranz zu flechten. Er sah, was sie hineinbanden, und staunte.
    Aber die Jüngere der beiden war nicht konzentriert auf ihr Tun, sie blickte immer wieder zu ihm hin, als grüble sie intensiv darüber nach, wie er wohl dazu kam, eine solche Reise mit ihnen zu machen! Der Kapitän traf auf ihren Blick, hielt ihn eine Sekunde, dann schaute er wieder nach vorn und kümmerte sich diskret um seine eigenen Angelegenheiten.
    »Ist das nicht ein wundervoller Tag?«, flüsterte Amanda leise.
    Sie lehnte sich einen Augenblick zurück, atmete tief ein und ich wusste, dass die Berührung auf ihren Wangen schon nicht mehr nur die des Windes war.
    Ich bin nie aufs College gegangen. Dreieinhalb Monate nachdem Amanda mich zu Mamu und Onkel Erik gebracht hatte, kehrte ich gemeinsam mit Walter nach England zurück, beendete die Oberschule und habe sofort danach geheiratet – mit neunzehn, ausnahmsweise ganz wie geplant, und mehr als bereit dazu! Unsere Chuppa stand im Garten im Harrington Grove, der die Hochzeitsgesellschaft gerade so fassen konnte: Amanda und Matthew, Mamu und Onkel Erik, sämtliche Vathareerpurs und Mrs Collins, Thomas Liebich, der aus Cambridge und Millie, die aus Kent angereist war, sowie einige Schulfreundinnen. Von Walters Seite kamen drei Freunde aus der Armee und ein ganzes Spalier aus Feuerwehrkollegen, die sich mit enormer Begeisterung an den Rundtänzen versuchten.
    Doch als Walter mir seinen Ring an den Finger steckte und Rabbi Bloom feierlich die Ketubba vorlas, waren meine Gedanken plötzlich davongeflogen zu all jenen, die hätten dabei sein müssen, und ich versuchte ihre Namen nicht zu denken, sonst hätte ich im glücklichsten Moment meines Lebens womöglich bitterlich zu weinen begonnen.
    Walter und ich mussten auch darüber hinwegsehen, dass es leider nicht Mamus bester Tag war. Sie verfolgte die ganze, für sie ungewohnte Zeremonie mit kühlem Unbehagen und später am Abend hörte ich sie zu Bekkas Bruder sagen: »Nun ist meine einzige Tochter tatsächlich eine von diesen Schabbesjuden geworden.«
    Zwar wusste ich inzwischen, wie es manchmal mit ihr sein konnte, aber an manchen Tagen war es einfach schwerer auszuhalten.
    Die Veränderung hatte noch während meiner Zeit in Holland begonnen. Je kräftiger und gesunder Mamu körperlich wurde, desto heftiger schien es in ihrem Inneren zu wühlen, bis sie schließlich fast niemandem mehr ohne Misstrauen begegnen konnte. Voll Bitterkeit erzählte sie mir, wie sich »die Holländer« während der Besatzungszeit gewandelt hätten. Am Anfang hatten mutige Solidaritätsbekundungen gestanden – der Tag, an dem sich auch die nicht jüdische Bevölkerung den gelben Stern angesteckt hatte, oder ein Generalstreik aus Protest gegen die Deportation jüdischer Mitbürger, der von den Deutschen brutal niedergeschlagen worden war.
    Doch mit der wachsenden allgemeinen Not kam die Gleichgültigkeit. Mamu und Tante Ruth waren an jenem Oktobertag, als sie ihr Versteck verlassen mussten, noch keine Stunde unterwegs gewesen, als ein früherer Nachbar, der immer höflich zu ihnen gewesen war, sie erkannt und der Gestapo ausgeliefert hatte, um das Kopfgeld zu kassieren.
    Mamu ging nun täglich auf die Straße. Sie hatte kein besonderes Ziel außer dem, fremden Menschen ins Gesicht zu sehen und sich zu fragen, was diese oder jener wohl während der Besatzung getan hatte. Die guten Jahre wischte sie mit einer ungeduldigen Armbewegung beiseite, als ob es sich um nichts als eine Täuschung gehandelt hätte.
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