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Liverpool Street

Liverpool Street

Titel: Liverpool Street
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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Onkel Erik fand, das sei immer noch besser, als die Verbitterung gegen sich selbst zu richten; wir hofften, dass ihre Wut sich mit der Zeit entladen und selbst beseitigen würde. Aber den Nachbarn begann sie unheimlich zu werden.
    Die beiden Schwestern van Dyck, bei denen wir wohnten und die mir ein kleines Zimmer zur Verfügung gestellt hatten, baten Onkel Erik schließlich unter Tränen, sich eine neue Unterkunft zu suchen. Mamu hatte ihnen entgegengeschleudert, der Tod von Tante Ruth, für den die beiden verantwortlich seien, möge »über sie kommen«.
    Diesen kleinen Umzug erlebte ich schon nicht mehr mit. Als ich mit Walter nach England zurückkehrte, war mir klar geworden, dass mein Bleiben nichts geändert hätte. Wenn es irgendjemanden gab, von dem Mamu sich verstanden fühlte, so war dies Onkel Erik, mit dem sie einen Großteil ihrer Erfahrungen und Katastrophen teilte. Aber ich? So schmerzhaft das für uns beide war: Je länger ich blieb, desto deutlicher trat zutage, dass ich nicht als ihre Tochter aufgewachsen war.
    Ich ging freitags in die Synagoge, hielt den Schabbat, aß kein Schweinefleisch und keine Krustentiere: Das allein bot Stoff für zahllose Auseinandersetzungen. Zunächst nahm sie es mit Verwunderung hin, aber nach wenigen Wochen platzte es förmlich aus ihr heraus: Wie konnte ich einen Gott verehren, der die Vernichtung seines eigenen Volkes zugelassen hatte? Musste sie mir wirklich noch einmal erzählen, wie mein Vater gestorben war oder meine Tante in ihren, Mamus Armen? Hatte ich Evchen und Betti vollkommen vergessen, wollte ich das Andenken Bekkas beschmutzen, meiner eigenen toten Freundin?
    Ich fiel aus allen Wolken. Mamu hatte an Bekkas Tod so wenig Anteil genommen, dass ich ihn nur ein einziges Mal erwähnt hatte; ich verstand, dass sie mit ihren eigenen bösen Erinnerungen mehr als genug zu tun hatte. Aber des Verrats an Bekka bezichtigt zu werden – das war der eine Vorwurf, den ich am wenigsten ertrug. »Lass Bekka aus dem Spiel!«, fauchte ich sie an. »Tu nicht so, als ob sie dich plötzlich interessieren würde!«
    Meine Mutter holte aus, gab mir eine Ohrfeige und lief weinend aus dem Zimmer.
    Jedes Wochenende brachte von da an dieselben Diskussionen mit sich, begann mit Vorwürfen am Freitagnachmittag und schleppte sich schmollend und schweigend bis zum Samstagabend. Dass ich anbot, mit Mamu in die Kirche zu gehen, machte es nur noch schlimmer: Meine Mutter fühlte sich erst recht verraten, als ich ihr erklärte, ich glaubte zusätzlich zu allem anderen auch noch an Jesus!
    Wäre Walter nicht regelmäßig zu Besuch gekommen, ich wäre wohl verzweifelt.
    Unser schönstes und ehrlichstes Gespräch führten Mamu und ich erst, als ich ihr vorsichtig erzählte, Walter ginge nach England zurück und habe mich gefragt, ob ich mit ihm kommen wolle.
    Sofort sagte Mamu: »Ich finde, das solltest du tun.«
    »Und du?«, fragte ich leise. »Ich habe mir immer vorgestellt, dass wir eines Tages alle zusammen in England leben würden …«
    »Vielleicht«, erwiderte sie ausweichend. »Vielleicht kommen Erik und ich irgendwann nach. Aber so lange solltest du nicht warten.«
    »Mamu, weißt du eigentlich, warum ich zu dir nach Holland gekommen bin?«
    »Nun, ich denke, weil …« Es bereitete ihr sichtlich Schwierigkeiten, die Antwort auszusprechen. »Es hatte wohl mit Liebe zu tun, nehme ich an.«
    »Genau.« Ich versuchte es mit Humor. »Da bin ich aber froh, dass das angekommen ist.«
    Mamu lachte nicht. »Ziska, jeden einzelnen Tag … ob im Versteck oder im Lager oder später hier … jeden einzelnen Tag habe ich an dich gedacht und mir gewünscht …« Ihre Stimme brach. »Es tut mir so leid. Dass es nicht funktioniert, hat nichts mit Liebe zu tun, das musst du mir glauben.«
    »Ich weiß.« Jetzt heulte ich doch. Sie sagte: »Du bist ein gutes Mädchen. Ich bin froh, dass du gekommen bist, es bedeutet mir sehr viel. Aber jetzt geh zurück und werde glücklich. Ich kann es nicht mehr.«
    Als ich mit Walter nach England heimkehrte, tat ich es ganz. Mamu und ich telefonierten weiterhin mindestens einmal pro Woche miteinander, sie kam zu unserer Hochzeit und ab und zu erzählte ich ihr – halb im Scherz – von Wohnungen, die in unserer Nähe frei wurden. Aber im Frühjahr 1948 verkündeten sie und Onkel Erik, dass sie weder nach England noch nach Amerika, sondern nach Israel gehen würden, den soeben ausgerufenen Staat der Juden. Der Krieg mit den arabischen Nachbarn, der nur
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