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Liverpool Street

Liverpool Street

Titel: Liverpool Street
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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wenige Stunden nach der Staatsgründung ausbrach, schreckte sie nicht. Von nun an wollten sie unter Juden leben.
    Ihr Enkelkind kennt Mamu nur von Fotos. Rebecca Lightfoot wurde am 10. September 1948 geboren und es war ihre Großmutter Amanda, die sie mir in die Arme legte.
    Walter und ich scherzen oft, dass sich Beckys erster, prägender Blick nicht auf mich gerichtet haben kann: Sie und Amanda lieben sich zärtlich, haben eigene Koseworte füreinander und seit unsere Tochter laufen kann, müssen wir unser Gartentor mit einer Kette zusperren, um zu verhindern, dass »Bäckchen« zielstrebig durch halb Finchley zu ihrer »Amma« wackelt.
    Von allen Geschichten, die wir und ihre Großeltern ihr erzählen, gibt es eine, die Becky immer wieder hören will: »Amma, erzähl, wie Ziska sich verstecken wollte.«
    Und Amanda erzählt: von dem kleinen Mädchen, das immer wieder vor gefährlichen Leuten davonlaufen und sich verstecken musste, bis seine Mutter es schließlich allein in ein fremdes Land und zu fremden Menschen schickte, wo sie es nicht finden würden. Aber das Mädchen wollte das gar nicht recht glauben und das Erste, was es seine Pflegemutter fragte, war, wo es sich denn in dem neuen Land verstecken könne. Da erklärte sie ihm, dass es sich nie mehr würde verstecken müssen, dass es jetzt ganz sicher war und dass auch seine neuen Eltern alles dafür tun würden, dass ihm nichts Böses geschah.
    Die Geschichte endet mit immer demselben kleinen Ritual.
    »Und Ziska, das ist meine Mummy, stimmt’s?«, fragt Bäckchen lächelnd.
    »Das ist sie«, antwortet Amma. »Und ich muss es wissen, denn ich war schließlich dabei.«
    So macht mich Amanda zur Heldin meiner kleinen Tochter, aber sie erzählt ihr nicht, dass es in der Geschichte auch noch ein zweites Mädchen gab. Das will ich selbst eines Tages tun, denn ich möchte, dass Rebecca weiß, von wem sie ihren Namen hat.
    Thomas, Bekkas Bruder, den es erst in ein Internat, dann in ein Internierungslager und später mit einem Stipendium an die Universität Cambridge verschlagen hatte, erfuhr, dass ich über das Rote Kreuz nach seiner Familie hatte suchen lassen, und nahm Kontakt mit mir auf. Er war mehrere Monate nach Kriegsende nach Deutschland zurückgekehrt, um Näheres über die Endstation eines Zuges in Erfahrung zu bringen, der fast eintausend Berliner Juden im Oktober 1942 nach Lettland deportiert hatte. Doch weder in den Verzeichnissen des Rigaer Gettos noch in den Namenslisten der Konzentrationslager fanden sich Hinweise auf die Liebichs und es sollte ein weiteres Jahr dauern, bis er einen der wenigen Überlebenden dieses Transports ausfindig machte und herausfand, was genau geschehen war.
    Seinen Brief habe ich nur ein einziges Mal gelesen. Den Wortlaut der Sätze werde ich nicht vergessen.
    Sie sind nie im Getto angekommen. Ihr Transport endete in einem Wald bei Riga, wo sie die Kleider ablegen, an den Rand einer Grube treten mussten und von SS-Leuten erschossen wurden. Ihr einziger Halt wird gewesen sein, dass sie bis zum Schluss beisammen waren.
    Der Brief liegt in einer Schublade, die ich seitdem nicht mehr angerührt habe, aber manchmal überfällt es mich, einfach so: wenn ich Becky beim Spielen zusehe, wenn Walter und ich abends zusammensitzen und uns den Tag erzählen. Wie kann es sein, dass ich glücklich bin, einen liebevollen Ehemann, eine hinreißende Tochter und wunderbare neue Eltern habe – und Bekkas Leben dieses unfassbar brutale Ende genommen hat?
    Dann kann es passieren, dass auf all meine Schätze vorübergehend ein Schatten fällt, als könnte ein so unverdientes Glück nicht von Dauer sein.
    Und ich reiße mich zusammen und versuche, nicht jedes Zeichen von Unfreundlichkeit, das mir begegnet, gleich zu werten: Mögen diese Leute keine Juden? Ist es denkbar, dass »es« auch hier losgeht? Irgendetwas drängt mich und lässt mir keine Ruhe, seit Becky auf der Welt ist: Ich muss aufpassen, ich muss die Anfänge erkennen, ich darf nicht den Fehler meiner Eltern begehen und vertrauen und warten, bis es zu spät ist …
    Und dann wieder bin ich mir sicher, dass ich übertreibe, dass es hier nicht passieren wird: Zu selbstverständlich gehören wir inzwischen dazu. Walter ist nach seinem Austritt aus der Armee zur Feuerwehr zurückgekehrt und kommandiert seinen eigenen Zug, ich schreibe im Auftrag einer Verleihfirma Untertitel für fremdsprachige Filme. Noch wohnen wir zur Miete in einem Kellergeschoss in der Nähe meiner alten
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