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Little Miss Undercover - Ein Familienroman

Little Miss Undercover - Ein Familienroman

Titel: Little Miss Undercover - Ein Familienroman
Autoren: Lisa Lutz
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Arm, und als er am Tisch saß, bat er David, ihm die Salatschüssel zu reichen.* Alle Augen richteten sich auf Dad, weil dieses verdächtige Verhalten von allen am verdächtigsten war.
    »Liebling, warst du etwa beim Yoga?«, fragte Mom.
    »Ja«, sagte Dad.
    Meine Mutter war so verblüfft und so froh, dass mein Vater plötzlich – und sei es nur für einen Tag – auf seine Gesundheit achtete, dass sie jede Diskussion im Keim erstickte, um ihn ja nicht davon abzubringen.
    Dann folgte ein Gespräch über die fahrlässige Tötung, die Rae fast verschuldet hätte, dem setzte ich aber kurzerhand ein Ende, weil ich das Thema so satt hatte.
    »Wir haben beschlossen, uns dieses Jahr ein paar Verschwinden zu gönnen«, erwähnte meine Mutter beiläufig, als sie den fadesten Putenbraten aller Zeiten servierte. »Tante Grace 1 hat
    uns ein bisschen Geld hinterlassen, mit der ausdrücklichen Weisung, es für Freizeitaktivitäten zu verwenden.«
    »Das hör ich zum ersten Mal«, warf David ein.
    »Wir sagen dir nicht immer alles, David. Genau wie du uns nicht immer alles sagst«, erwiderte Mom schneidend.*
    [Zwischen den Zeilen lauerte eindeutig eine feindselige Botschaft, die ich nicht zu deuten vermochte. Ich musste der Sache nachgehen.]
    An dieser Stelle sollte ich vielleicht erzählen, wie es dazu kam, dass die Spellmans das Wort »Verschwinden« neu definierten:
    Verschwinden [f ε 'fvIndn] Subst.: Urlaubs- oder andere erholsame Fahrten in der arbeitsfreien Zeit.
    Vor ziemlich genau zwei Jahren war meine Schwester verschwunden. Wie gesagt, war es ihr bei diesem dramatischen und wirkungsvollen Kniff darum gegangen, die Familie wieder zusammenzubringen. Für die übrigen Beteiligten allerdings war es in erster Linie eine grausame Erfahrung gewesen, eine ungeheure körperliche und seelische Belastung, die jeden von uns ausgelaugt hatte, so dass wir es meinem Schwesterchen durchaus übelnahmen. Rae spürte unseren leisen Unwillen und überspielte ihn einfach, indem sie dieses schreckliche Ereignis nur noch als »meine Ferien« bezeichnete. Hier eine Kostprobe ihrer Umprägung:
    »Wann warst du das letzte Mal beim Zahnarzt, Rae?«
    »Och, das war ein paar Wochen nach meinen Ferien.«
    Unsere Eltern versuchten zwar, sie von diesem Wörtertausch abzubringen, aber Rae weigerte sich, es war ihr schwacher Versuch, die Geschichte umzuschreiben. Seither verwenden Mom und Dad das Wort »Verschwinden«, wenn sie »Ferien« meinen, damit Rae stets an ihre Missetat erinnert wird. Und so meint Rae mit »Ferien« fast immer die fünf Tage, die sie im Winter vor zwei Jahren verschwunden war, während meine Eltern mit »Verschwinden« höchstwahrscheinlich auf ihren nächsten Urlaub anspielen.
    Nachdem Dad zum Dessert frisches Obst und alle anderen Eis verputzt hatten, diskutierten wir vor allem, ob Rae allein zu Hause in der Clay Street bleiben durfte, während meine Eltern verschwanden. Mom und Dad dachten laut darüber nach, Rae im Sommer auf Kreuzfahrt mitzunehmen, aber da drohte meine Schwester, Ferien 2 zu machen, um bei diesem
    Verschwinden nicht dabei sein zu müssen. Die Idee wurde gleich wieder fallengelassen.
    Das letzte verdächtige Verhalten, das mir an diesem Abend auffiel, war, als Raes Handy klingelte. Sie ging sofort ran und bat Mom, sie zu entschuldigen.
    Das letzte verdächtige Verhalten, das mir an diesem Abend auffiel, war, als Raes Handy klingelte. Sie ging sofort ran und bat Mom, sie zu entschuldigen.
    Nachdem Rae den Tisch verlassen hatte, sagte Dad: »Wir sollten vielleicht ein paar Telefonierregeln aufstellen. Rae hat pausenlos dieses Ding am Ohr.«
    »Mit wem telefoniert sie überhaupt?«, fragte ich.
    »Inzwischen hat sie ein paar Freunde gewonnen * «, erklärte Mom.
    [Bisher hatte meine Schwester nur ein paar Schulbekanntschaften, mit denen sie ganz selten Hausaufgaben machte und noch seltener auf Geburtstagspartys oder ins Kino ging. Echte Freunde, mit denen sie auch mal ausgiebig telefonieren konnte, existierten bis dato nicht.]
    Der Abend endete damit, dass Rae am Telefon hing, ohne der Familie noch Beachtung zu schenken, während mein Vater an einem Kräutertee nippte, meine Mutter sich mit einem kühlen »Gute Nacht« von David verabschiedete und Petra mit betretener Miene »Auf Wiedersehen« sagte, nachdem sie schon beim Essen ungewöhnlich still gewesen war * .
    [Ich notierte mir, dass ich sie bei unserem nächsten Treffen nach dem Grund fragen musste.]
    1 Tante Grace gehörte zur Familie meines Vaters.
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