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Little Miss Undercover - Ein Familienroman

Little Miss Undercover - Ein Familienroman

Titel: Little Miss Undercover - Ein Familienroman
Autoren: Lisa Lutz
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seines Bruders und stieß schließlich auf das Golden Nugget Resort in Reno, Nevada.
    Da meine Eltern am nächsten Morgen einen neuen Auftraggeber treffen wollten, durfte ich Onkel Ray einsammeln gehen. Allerdings nicht allein, denn alle Spellman-Kinder müssen sich hin und wieder dieser Aufgabe stellen – es ist eine Art Initiationsritus.
    Eine Stunde nachdem Onkel Rays aktueller Aufenthaltsort ermittelt worden war, hatten Rae und ich unsere Sachen gepackt und traten die Fahrt an. Vier Stunden später erreichten wir Reno. Als wir im Hotel eincheckten, legte ich an der Rezeption eine Vollmacht unseres Vaters vor, mit allen offiziellenAngaben und Referenzen. Und so erfuhren wir Onkels Rays Zimmernummer. Wir bekamen einen Ersatzschlüssel ausgehändigt.
    Wie üblich hing das »Bitte nicht stören«-Schild an der Tür von Zimmer 62B. Der Form halber klopfte ich an und wartete ab, ob Onkel Ray so etwas bellen würde wie »Können Sie nicht lesen?« oder »Ich habe gerade eine wichtige Besprechung«. Als die Antwort ausblieb, dachte ich, er sei besinnungslos.
    Ich steckte die Schlüsselkarte in die Tür und öffnete sie einen Spaltbreit. Sofort schlug ich sie wieder zu. Der Gestank war überwältigend. Und er verriet mir alles, was ich wissen musste.
    »Was ist los?«, fragte Rae. Sie hatte meine Anspannung bemerkt.
    Ich war noch nicht in der Lage, ihr die Wahrheit zu sagen, ich wusste noch nicht, wie ich am besten vorgehen sollte. Um Zeit zu gewinnen, musste ich Rae eine Weile hinhalten.
    »Onkel Ray hat gerade Sex«, sagte ich. Erst dann ging mir auf, dass diese Lüge seinen vollen Segen gefunden hätte.
    Rae hielt sich prompt die Ohren zu und fing an, »La, la, la, la« vor sich hin zu trällern. Ich nahm ihren Arm, um sie in unser Zimmer zu führen. Beim Blick aus dem Fenster entdeckte sie den Swimmingpool drei Stockwerke unter uns. Sie fragte, ob sie ihn gleich ausprobieren dürfe, und ich war so dankbar für die Gelegenheit, in Ruhe ein paar Telefonate führen zu können, dass ich sie praktisch zur Tür hinausschubste.
    Vom Balkon aus sah ich Rae eine Weile zu, wie sie sich im Becken mit dem rosaroten Grund auf dem Rücken treiben ließ. Danach rief ich den zuständigen Gerichtsmediziner an und unsere Eltern. Anschließend ging ich noch einmal zu Onkel Rays Zimmer, um ganz sicherzugehen.
    Der Polizei zufolge war er erstickt. Vor etwa zwei Tagen musste er in der Badewanne das Bewusstsein verloren haben. Da hatte er dem Zimmermädchen zwanzig Dollar zugesteckt,um ungestört zu bleiben. Vor seinem Tod hatte er beim Carribean Poker sechstausend Dollar verloren. Als eigentliche Todesursache wurde Alkoholmissbrauch festgestellt. Es wurden keine Ermittlungen eingeleitet.
    Rae trat ins Zimmer, als ich gerade das Telefonat mit der gerichtsmedizinischen Abteilung beendete. Als sie die Begriffe Leiche , Autopsie und Überführung hörte, verstand sie sofort.
    »Er ist tot, nicht wahr?«
    Rae verbrachte zwei Stunden unter der Dusche und ging danach stumm ins Bett. Damit hatte sie wieder einmal ihren eigenen Rekord übertroffen. Sie sprach erst am nächsten Morgen, als wir die Taschen in den Kofferraum luden.
    »Wie kommt er nach Hause?«, fragte Rae.
    »Wer?«
    »Onkel Ray«, knurrte sie.
    »Nach der Autopsie wird er im Flugzeug überführt.«
    »Onkel Ray fliegt nicht gern.«
    »Jetzt macht es ihm bestimmt nichts mehr aus.«
    »Warum nehmen wir ihn nicht mit?«
    »Darum.«
    »Darum was?«
    »Er ist tot, darum. Die Verwesung hat bereits eingesetzt. Und ich will nicht drei Tage in Reno herumhängen, bis die Gerichtsmedizin seine Leiche freigibt. Steig ein, Rae. Das ist absolut nicht verhandelbar.«
    Stöhnend nahm sie Platz und knallte die Beifahrertür zu.
    Die erste Stunde auf der unendlich öden I-80 seufzte Rae entweder vor sich hin oder starrte mit trübem Blick aus dem Fenster. Erst als sie mich mit den Worten anherrschte, »er müsste nicht tot sein«, wurde mir klar, dass meine Schwester zornig war. Sie war zornig, weil sie nie erlebt hatte, wie einer von uns Onkel Ray zu retten versuchte. Rae kannte nur die zweite Hälfte der Geschichte, in der eine ganze Familie dieAugen davor verschloss, dass sich einer der Ihren selbst zugrunde richtete.
    An der nächsten Raststätte hielt ich an, um die Tränen wegzuwischen, die sich hinter meiner Sonnenbrille angesammelt hatten. Als ich zum Auto zurückkehrte, hatte sich Rae mein Handy geschnappt und verhandelte mit der Gerichtsmedizin gerade darüber, ob die Leiche ihres Onkels
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