Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Linna singt

Linna singt

Titel: Linna singt
Autoren: Bettina Belitz
Vom Netzwerk:
Ich wollte ihn immer singen, seitdem ich ihn das erste Mal gehört habe; kurz nachdem Maggies Brief mich erreicht hatte, lief dieser Song im Radio, und bereits in diesem Moment dachte ich an Falk, angsterfüllt und sehnsüchtig zugleich.
    Nun, jetzt kenne ich die Wahrheit. Er ist nicht verheiratet. Er hat kein Mädchen gefunden und sich kein Häuschen gebaut und einen vernünftigen Job gesucht. Es ist viel tragischer. Wenn er sich gebunden oder gar ein schönes Mädchen geheiratet hätte, wäre es ein Kampf, den ich gewinnen könnte. Ich könnte die Frau vertreiben, ihn verliebt in mich machen, ihre Stelle einnehmen. Wenigstens könnte ich darauf hoffen.
    Trotzdem passt jedes Wort des Songs. Denn auch Falks Träume sind wahr geworden. Meine noch nicht. Wie auch? Ich kenne sie nicht. Ich muss sie erst finden. Falks und meine Nacht ist Wirklichkeit geworden, so real, dass jede Fantasie dagegen ihre Farben verlieren musste. Als Lebensziel hat diese Träumerei nicht getaugt. Sie hat mich sogar gebremst, mich meiner Flügel beraubt und mich geblendet. Es ist gut, dass ich sie verloren habe.
    Mir bleiben nur wenige Minuten, der Hubschrauber wird rasch zurückkehren. Ich darf nicht zögern. Es hört mich doch niemand! Und da ich an diesen Ort niemals zurückkehren werde, wird er mich auch nicht an mein Versagen erinnern können, falls es nicht glückt. Was ich jetzt tue, wird mir nur den Beweis erbringen, dass ich recht hatte und dass meine Stimme für immer verloren ist – oder aber … oder ich finde sie wieder.
    Mein Klavierspiel wird mich locken. Ich trickse mich damit selbst aus. Sobald ich die ersten Takte gespielt habe, werde ich nicht anders können, als einzustimmen und weiterzusingen. Mein alter Fehler: Ich kann eine Komposition nicht unterbrechen. Ich muss sie zu Ende singen. Wie Linna, nicht wie Adele. Ich muss dieses Lied zu meinem Lied machen. Maggie hat gewusst, dass ich das kann. Der Titel stand als Letzter auf der Liste. Someone Like You.
    Es ist nicht schwer, sogar viel leichter, als ich dachte, und doch bringt es mich fast um. Ich fühle mich wie früher auf der Bühne, ich habe das Gefühl, dass die Töne in meiner Kehle mich zerreißen und ersticken, dass ich weinen muss, wenn ich sie singe, aber ich höre, dass meine Stimme weiblicher und voller, aber auch zarter geworden ist. Beim Refrain passiert es bereits – ich kann nicht mehr darüber nachdenken, wie ich singe und die Töne intoniere, nur noch schwach reflektieren, was gerade mit mir geschieht. Wie in der Nacht mit Falk. Die Musik verdrängt alles Scharfe und Kantige und Konkrete, als berühre sie mich sanft am ganzen Körper, und ich beginne die Kontrolle zu verlieren.
    »Old friend, why are you so shy? Ain’t like you to hold back or hide from the light.«
    Die Worte, die ich singe, sind keine Worte mehr, sondern Versprechungen, an mich selbst, nicht an jemand anderen. Aber sie werden auch immer Falk gelten, Falk und seiner scheuen, fernen Unerreichbarkeit. Und sie gelten meinen Freunden. Jules und Maggie und Simon.
    Es wird immer wehtun. Ich werde an Falk denken und es wird wehtun, aber es wird mich nicht umbringen. Ich werde mein Leben deshalb nicht verschleudern. Das habe ich fünf Jahre lang getan. Es ist genug.
    »Never mind, I’ll find someone like you … I wish nothing but the best for you, too … Don’t forget me, I beg … I remember you said … sometimes it lasts in love, but sometimes it hurts instead.«
    Als ich zurück ins Freie trete, läuft mir der Helfer des Piloten bereits entgegen. Das Singen hat mir so viel Energie geraubt, dass ich mich kaum mehr aufrecht halten kann. Die ganze Zeit, seitdem mich hier oben zum ersten Mal grelle Panik überfallen hat, habe ich all meine Kräfte mobilisiert, wann immer ich musste, ich habe meine Schultern durchgedrückt und mein Haupt erhoben. Doch jetzt kann ich nicht mehr. Ich fühle mich wie eine schwer verwundete Kriegerin, als der junge Mann unter meinen Arm greift, um mich zu stützen, und mich besorgt mustert. Meine Schalter legen sich nicht von allein um wie sonst, wozu auch? Flirten ist sinnlos geworden. Ich habe keine langen Haare mehr wie früher, ich bin übermüdet und erschöpft, ach, ich weiß nicht, ob es überhaupt je einen Sinn hatte außer dem einen, mich von mir selbst zu entfernen. Doch ich schaffe es, ohne seine Hilfe in den Helikopter zu steigen, und schnalle mich mit zitternden Fingern an.
    »Na, schau an«, sagt der Pilot gut gelaunt und dreht sich strahlend zu
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher