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Linna singt

Linna singt

Titel: Linna singt
Autoren: Bettina Belitz
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    Er wusste es nicht. Ich hatte mir einige Wochen zuvor ein Facebook-Profil angelegt, um ihn kontaktieren zu können, doch dann tat ich es doch nicht. Ich wollte nichts erfahren, was nur wehtun würde.
    November, hatte er gesagt. Nun war schon Dezember und die Sonne schien mir heiß und brennend auf meinen bloßen Nacken, als ich mit müden Beinen und doch so ausgeruht wie selten zuvor dem Meer entgegenlief.
    Ich hatte mich nach ihm durchfragen müssen; ich hatte keine Adresse, nur den Namen der Stadt, in der er lebte. Townsville, Queensland. Doch unten am Hafen kannten sie ihn, Falk Lovenstein. Ein alter, sonnenverbrannter Mann, der ab und zu mit Falk zum Hochseefischen hinausfuhr, gab mir schließlich den wertvollen Tipp, dass er gerade mit dem Motorrad und ein paar Kumpels an der Sunny Coast unterwegs sei, Richtung Norden, dem Dschungel entgegen.
    Also begann ich zu trampen. Ich hatte nur eine grobe Richtung, eine Idee, mehr nicht, doch nach zwei Tagen und einer kurzen Nacht in einem lausigen Motel und vielen fruchtlosen Gesprächen mit netten Menschen, von deren Geplapper ich nur die Hälfte verstand, hatte ich die Gewissheit, ihn gefunden zu haben. Allein das versetzte mich in Hochstimmung – und die unbezahlbare Erfahrung, bei meiner Suche nicht verloren gegangen zu sein.
    Das hier war mein ganz persönliches, freiwilliges Abenteuer und ich genoss es. Der Pfad wurde sandiger und schmaler, um mich herum türmten sich fleischige Pflanzen auf, grüne Ungeheuer, in denen es wisperte und zischte. In diesem Land gab es keine andere Möglichkeit, als sich der Natur auszuliefern und in ihr unterzutauchen, denn es wäre aussichtslos, sie zu bekämpfen. Das war es, was die Australier so locker und entspannt machte; sie hatten es aufgegeben, all das giftige Getier und die gefährliche Sonne und die Wetterkapriolen zu fürchten.
    Dicke rostbraune Ameisen rieselten auf meinen Arm, als ich einen Palmwedel zur Seite rückte, um die letzte Biegung zu nehmen, und der Dschungel mich freigab. Bis hierher mussten auch sie zu Fuß gegangen sein, drei Männer undefinierbaren Alters, die gerade ein Zelt aufbauten und ein Lagerfeuer richteten, um es abends entzünden zu können. Ja, davon hatte er erzählt. Barbecue, Bierchen und Gitarre. Ihre Helme lagen verstreut auf dem Boden, daneben ihre Motorradkleidung. Keine Frau weit und breit. Sie mussten mich für eine Geistererscheinung halten, eine Fata Morgana.
    Ihn entdeckte ich sofort. Ich legte warnend den Finger an meine Lippen, um den Männern zu bedeuten, dass sie schweigen sollten, und sie nahmen es schulterzuckend hin, als ich an ihnen vorbeilief und die Urne fest an meine Brust drückte.
    Ja, er war es. Er stand bis zu den Knien in der Brandung, den Rücken zu mir, die Arme entspannt hängend, und blickte hinaus auf das Meer, dessen Blau so tief und sanft leuchtete, dass auch ich mich danach sehnte, mein Leben in seinen Fluten zu verbringen. Doch das Land meines Herzens – rauer, kälter, stürmischer – wartete noch auf mich.
    Unzählige Male hatte ich mir diesen Augenblick vorgestellt. Er hatte mich nicht mehr losgelassen. Ich hatte es nie anders tun wollen als so, wie es jetzt geschah. Er sollte nicht wissen, dass ich kommen würde. Sich nicht darauf freuen können oder es gar fürchten. Ich wollte nur bei ihm sein, für einen Abend oder einen Morgen, wollte ohne einen Gruß neben ihn treten und darauf warten, dass er seinen Kopf wandte und mich erkannte. Denn nur so würde ich wissen, was er fühlte.
    Doch nun war ich es, die diesen Augenblick fortschickte. Nein. Ich konnte nicht zu ihm gehen. Das hier gehörte ihm, nicht mir. Ich wollte ihn nicht darin stören.
    Vorsichtig stellte ich die Urne zwischen zwei Steinen ab; er konnte sie nicht übersehen, wenn er sich vom Meer losriss, um zurück zu den anderen zu gehen. Er ist es also auch hier, dachte ich lächelnd. Der einsame Wolf, immer ein wenig abseits. Er würde wissen, wer sie ihm gebracht hatte, wenn er das Bild entrollte und ein letztes Mal in ihr treues, liebes Gesicht blickte – eine Zeichnung, die ich zwei Tage vor ihrem Tod angefertigt hatte. Seit diesem heißen, drückenden Abend wusste ich, dass ich zu ihm fliegen würde. Zu ihm … und fort von ihm.
    »Ich liebe dich«, flüsterte ich in den warmen Abendwind, drehte mich um und lief zurück durch den Dschungel und der Straße entgegen. Keine Tränen. Kein Bedauern. Nur Sehnsucht.
    Ich war hier, in seinem Paradies, einen Steinwurf von ihm entfernt, doch
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