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Linna singt

Linna singt

Titel: Linna singt
Autoren: Bettina Belitz
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zerbrochen ist. So befreiend die Erkenntnis über Jules’ wahre Gefühle auch sein mag, er hat nichts als Schrott hinterlassen in seinem unglücklichen Versuch, sich selbst zu verleugnen und es allen recht zu machen.
    Und ich kann mir schönere Situationen vorstellen, als gemeinsam mit meinem zukünftigen Exmann sechs Stunden im Auto zu verbringen. Das Schweigen in Jules’ Audi wird noch lastender sein als das zwischen Falk und mir auf der Hinfahrt.
    Aber auch wir reden nicht. Mein Schlafsack, der immer noch zerknautscht auf dem Beifahrersitz liegt, kommt mir vor wie ein Himmelbett, als ich in den ausgekühlten Jeep steige. Sofort kuschele ich mich darin ein und versuche gar nicht erst, gegen die Müdigkeit anzukämpfen. Es sind meine letzten gemeinsamen Stunden mit Falk, doch ich schaffe es nicht, sie wach zu verbringen. Dennoch liegt die ganze lange Fahrt über seine rechte Hand auf meinem Bein, ich weiß selbst im tiefen Schlaf darum. Er nimmt sie nur weg, um zu schalten, und als wir in Neulußheim ankommen und ich mit verkrampften Gliedmaßen und einem lähmenden Unwirklichkeitsgefühl im Kopf aus dem Auto steige, spüre ich sie immer noch auf meinem Oberschenkel ruhen.
    Sobald ich mich gähnend strecke und tief einatme, kniet sich die Müdigkeit plötzlich nieder und gönnt mir einen kurzen Moment der totalen Wachheit, dem ein belebendes Kribbeln in meinem ganzen Körper folgt. Es liegt kein Schnee, ein völlig ungewohntes Bild, das mir verkehrt vorkommt, und es nieselt aus tief hängenden Wolken, aber die Luft riecht so intensiv nach feuchter Erde und Blütenknospen, dass ich am liebsten die Straße hinunter und durch die Felder rennen würde, so wie ich es als Kind immer getan habe, wenn der Frühling kam. Ich musste rennen. Durch die Stadt und den Domgarten zum Rhein und über die Domwiesen, bis ich endlich mit klopfendem Herzen und frischem Mut am Wasser stand und den Frachtern nachschaute, in der Hoffnung, dass dieses Jahr alles besser würde. Es wird noch dauern, bis der Frühling ins Land zieht, und ich weiß nicht, ob damit alles besser wird. Aber es wird auf jeden Fall anders werden.
    Es muss anders werden, auch mit ihr. Erst auf dem Rettungsflug sickerte langsam zu mir durch, dass ich eigentlich längst von Jules’ und Maggies Hochzeit hätte erfahren müssen. Mutter wusste mit Sicherheit davon. Sie hat es mir nicht gesagt, weil sie mich schützen wollte, denn sie war wie Maggie stets dem Irrglauben verfallen, ich liebe Jules. Sie wollte mir ihren eigenen Schmerz ersparen. Das ist nicht viel, aber mehr, als ich von ihrer Seite erwarten konnte. Wenn sie zu mir sagte, kein Mann würde es bei mir aushalten, tat sie es womöglich nur, um mich davor zu bewahren, es zu versuchen. Das macht es nicht besser. Aber es ist eine Erklärung, mit der ich leben kann.
    Falk lädt mit abgewandtem Gesicht meinen Rucksack aus und gibt mir Zeit, mich von Luna zu verabschieden, die hechelnd stillhält, als ich sie mit beiden Armen umfasse und an mich drücke. Abschiede sind schon schwer genug, Abschiede für immer sind brutal. Doch das hier ist nur die Vorstufe.
    Ich richte mich wieder auf, schließe die Klappe des Jeeps und gehe zu Falk, der im Schein der Straßenlampe auf mich wartet. Einen Moment lang sehen wir abgelenkt dabei zu, wie Maggie an Jules vorbei ins Haus rauscht; Simon hat bereits ihr Gepäck umgeladen und wartet bei seinem Auto auf sie, während Jules sich unschlüssig im Windfang herumdrückt, als sei er in seinem eigenen Haus nicht mehr willkommen. Seine Eltern scheinen nicht da zu sein und auch die Nachbarin mit den Mülltonnen bleibt im Dunkeln.
    »Also dann, Schneewittchen«, reißt mich Falk mit rauer Stimme aus meinen Gedanken und fasst mich bei den Schultern, um mich anzusehen. Für ein, zwei Sekunden habe ich den alten Falk vor mir; scheu, so scheu. Sein Weltumseglercharme hat sich verflüchtigt, doch ich mag ihn deshalb nicht weniger, sondern nur noch mehr.
    »Warum Schneewittchen? Die langen Haare sind Vergangenheit«, antworte ich bedrückt und wage es, mit den Fingerspitzen durch seinen Dreitagebart zu fahren.
    »Das war nicht der Grund, weshalb ich dich so genannt habe. Du kamst mir nur immer vor wie unter Glas. Unantastbar. Man kam nicht an dich heran. Doch das hat sich ja geändert.«
    Dito, könnte ich jetzt sagen, aber ich bringe kein Wort über meine Lippen. Es macht keinen Unterschied. Er hat sich mir geöffnet, aber deshalb ist er nicht nahbarer als früher. Ich weiß nur um ihn und
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