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Linna singt

Linna singt

Titel: Linna singt
Autoren: Bettina Belitz
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gehört uns allen. Wir teilen es.
    Ich setze mich ans Klavier, schlucke meine Angst hinunter und lege meine Hände auf die Tasten. Mein Herz blutet, als Falk zu spielen und nach den ersten, fast schwerfällig trägen Takten zu singen beginnt. Noch sind wir zu zweit, er und ich. Gitarre, Klavier, Gesang.
    »See her come down through the clouds, I feel like a fool. I ain’t got nothing left to give, nothing to lose …«
    Seine Stimme klingt so verletzlich, so ernst und erwachsen. Man glaubt ihm jedes Wort, so wie man mir damals jedes Wort geglaubt hat. Ich spüre, wie seine Blicke mich streifen, immer wieder, wie er aufschaut und wieder in sich hineinblickt, um einen Schmerz zu sehen, der nicht sein eigener ist, sondern unserer. Es gibt keine Grenzen mehr zwischen unseren Seelen. Wir sind eins, wir alle, Jules, Maggie, Simon, Falk und ich.
    »So come on, love, draw your swords, shoot me to the ground. You are mine, I am yours, let’s not fuck around.«
    Ich erschauere wie im Fieber, als Falk den Refrain singt, seine heisere Kopfstimme streichelt uns und schließt unsere Wunden, ohne dass sie uns unsere Qualen nehmen kann. Dann fallen Maggie und Jules ein, während mein Klavierspiel immer sicherer und präsenter wird. Maggies weiche, helle Mädchenstimme verbindet sich perfekt mit Falks Gesang, ich kann sogar die Farben dazu sehen, tiefes, dunkles Blau und ein zarter rosa Schimmer, wie das Glühen der untergegangenen Sonne auf den Berggipfeln und die Tiefe des Ozeans. Mein Klavierspiel und die sanfte Begleitung des Schlagzeugs bilden das Gegengewicht: die braune, trockene Erde und das sich im Wind wiegende, verdorrte Gras meiner Heimat. Ich blicke in unendliche Weiten, blicke in mein Herz.
    Simon spielt stumm, seine Finger liegen nur auf den Saiten, ohne sie zu zupfen, er findet noch keine Töne für das, was seit Jahren in ihm wütet. Doch er ist bei uns, er gehört zu uns.
    »You are … the only one. You are the only one …«
    Du bist der Einzige, denke ich. Der Einzige. Wir alle sind füreinander die Einzigen. Die Ersten und Einzigen und es wird nie anders sein. Wenn wir die Augen zum Sterben schließen, werden wir es immer noch fühlen.
    Falk wird meine erste und große Liebe bleiben. Es gibt nur eine. Für jeden von uns. Ich werde die erste Frau bleiben, der er nahe war und die ihn nicht bat zu bleiben. Die ihn frei ließ. Die ihm verschwieg, dass sie ihn liebte. Jules wird Maggies Ehemann bleiben, und wenn sie ihren Kummer überwunden und jemanden gefunden hat, der es ernst mit ihr meint, wird sie ihn immer noch haben wollen, sobald sie in seine Augen blickt. Das Herz vergisst nicht. Jules wiederum wird Falk nicht ansehen können, ohne sich zu wünschen, dass er es ist, in dessen Armen er zu sich selbst findet. Und Simon würde Yasmin jederzeit wieder vertrauen, wenn er nicht so bitter dafür bezahlt hätte. Bei keiner anderen wird es je für ihn das Gleiche sein wie bei ihr. Sie war die Erste.
    »So come on, love, draw your swords, shoot me to the ground. You are mine, I am yours, let’s not fuck around!«
    Wir sind laut geworden, nicht zu laut, aber Falks Gesang nimmt uns mit, er birgt eine Intensität und Ehrlichkeit, die mich am ganzen Leib erzittern lässt. Woher weiß er es? Woher kennt er diese Qualen, diesen Kummer? Er kann es doch gar nicht wissen! Seine Liebe gehört dem Meer, das Meer kann ihn nicht enttäuschen. Woher weiß er um das, was ich in diesem Augenblick empfinde?
    Doch dann begreife ich, dass ich es bin, die es ihm gibt, ihm und auch den anderen. Ich singe nicht, aber ich bin da, bei ihnen, vertraue mich wie sie der Musik an. Es war immer so, bei jedem unserer Auftritte. Sie haben durch mich gefühlt. Wir haben einer durch den anderen gefühlt. Das machte uns so großartig. Ich habe ihnen mein Innerstes geschenkt und für mich selbst blieb nichts übrig als Ohnmacht und Leere. Doch jetzt fangen sie mich zum ersten Mal dabei auf. Sie lassen mich nicht allein zurück. Und es macht mich stark, nicht schwach.
    Falk glaubt, was er singt, schreit fast dabei. Er spürt es, obwohl er es selbst nie erlebt hat. Das muss er nicht, um es zu fühlen, solange ich es bin, die mit ihm Musik macht. Wir alle haben Tränen in den Augen, auch er, als er die letzten Zeilen des Songs haucht, erschöpft, aber unbeugsam. Seine Stimme geistert wie ein Flehen durch den Raum.
    »The only one …«
    Jules wird langsamer und leiser, Falks Gitarrenspiel bekommt einen schleppenderen Rhythmus, ich passe mich ihnen an.
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