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Linna singt

Linna singt

Titel: Linna singt
Autoren: Bettina Belitz
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Wir wollen nicht, dass das Lied endet, wollen es hinauszögern, solange es möglich ist. Aber es endet.
    Als ich meine Hände von den Tasten nehme, fühle ich mich wie neugeboren, schutzbedürftig und hilflos. Aber das bin ich nicht. Ich bin weder neugeboren noch hilflos. Ich kann es nur noch nicht begreifen. Das hier ist die Stunde null nach einer langen, kräftezehrenden Vorgeschichte. Wir müssen neu beginnen, doch es wird unmöglich sein, dabei unsere Vergangenheit zu vergessen. Es wäre sogar das Fatalste, was wir tun könnten. Der sehnende, vergebliche Blick zurück, der mich beinahe zum Straucheln brachte, fühlt sich in diesen stillen Sekunden richtig an.
    »Keiner von uns sollte heute Nacht allein bleiben«, sage ich, was jeder von uns empfindet. Wir müssen zusammen sein, trotz der Verletzungen und Erniedrigungen, die wir uns gegenseitig zugefügt haben.
    Erst als Maggie neben mich tritt und mir tröstend über die Wange streicht, merke ich, dass ich immer noch weine, stumm und mit spärlichen Tränen, die warm wie Blut sind. Ich lasse sie gewähren, lehne sogar meinen Kopf an ihren Bauch, sie fühlt sich so weich und friedlich an und ich spüre, dass es ihr Kraft gibt, sich um mich kümmern zu können. Ich hätte sie das viel früher tun lassen sollen.
    Schweigend stehen Falk und Simon auf, um die Felle in die Mitte des Raumes zu tragen und die Kerzen um sie herumzustellen, ein Lichtkreis, der uns vor bösen Geistern schützt.
    Jules steigt als Letzter über die Kerzen, um zu uns zu kommen, unsicher, wohin er sich legen soll, er weiß nicht, wo er überhaupt noch erwünscht ist. Aber dann klopft Falk neben sich auf den Boden, wo bereits Luna döst – eine lässige, souveräne Geste, die Jules seine letzte Scheu nimmt. Neben Maggie kann und will er nicht liegen, sie hat sich an Simon gekuschelt, als befänden sich die beiden noch zusammen im Mutterleib, so eng und verschworen wirken sie in ihrer Umarmung.
    Ich bleibe wie immer allein, ich bringe es nicht über mich, meinen Kopf in Falks Armbeuge zu schmiegen, wenn Jules auf der anderen Seite ruht und wie ich zu verstehen versucht, dass wir ihn morgen verlassen müssen. Doch in dem kurzen, fernen Augenblick zwischen dem Erlöschen der Kerzen und dem Morgengrauen sucht und findet Falks linke Hand mein Gesicht und ich bette es vertrauensvoll hinein, weder wachend noch schlafend. Nur träumend. Es ist der einzige Zustand, den ich in dieser Nacht ertrage.
    Als das Knattern des Rettungshubschraubers die morgendliche Stille zerreißt, ist der Zauber vorüber. Wir stehen auf, ohne uns anzusehen, tragen die Kerzen nach unten, stopfen hastig unsere Habseligkeiten in unsere Rucksäcke, packen die Instrumente ein, ziehen uns unsere dicken Jacken über; keine Zeit zum Reden und auch nicht, um an morgen zu denken.
    Sie holen uns aus der Luft, denke ich erstaunt. Nicht mit dem Schlitten, sondern wie echte Rockstars. Wir stehen auf der Terrasse und blicken nach oben, wo der Helikopter kreist und nach einem Landeplatz Ausschau hält. Er ist klein, er wird uns nicht auf einmal mitnehmen können. Vermutlich werden wir in zwei oder drei Etappen abgeholt.
    Tobias lehnt in großzügigem Sicherheitsabstand am Terrassengeländer. Niemand von uns hat heute Morgen auch nur ein Wort mit ihm gesprochen, doch ich komme nicht umhin, mich zu fragen, wie es wohl in ihm aussieht. Ob er mich nun in Frieden lassen wird und endlich verstanden hat, dass ich nicht diejenige bin, für die er mich hält? Haben es die anderen denn verstanden?
    Auch ich stehe wieder abseits, weil Falk Luna festhalten muss, die sich vor dem Knattern des Hubschraubers fürchtet und drauf und dran ist zu flüchten. Doch als der Helikopter gelandet ist und Jules und Tobias vorangehen, um als Erste einzusteigen, kommt Maggie zu mir und stellt sich neben mich, den Blick hinunter ins Tal gerichtet. Sie wirkt immer noch verstört, aber ruhiger als all die Tage zuvor.
    »Wie war er eigentlich? Falk, meine ich?« Ich kann hören, dass sie schmunzelt. »Bestimmt gut, oder?«
    »Eigentlich … nein, eigentlich nicht so gut, wie man meinen könnte«, antworte ich wahrheitsgemäß, doch ich weiß jetzt schon, dass ich seine schlampigen Erkundungstouren auf meinem Körper vermissen werde. »Es ist ihm nicht so wichtig. Und wie war Tobias?«
    Ja, vielleicht ist die Frage frevelhaft, aber die Antwort interessiert mich aufrichtig und ich habe zum ersten Mal das Gefühl, dass Maggie und ich uns von Frau zu Frau unterhalten und nicht
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