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Lily und der Major

Lily und der Major

Titel: Lily und der Major
Autoren: Linda Lael Miller
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fuhr Mrs. Tibbet fort und deutete lächelnd auf den
Major. »Und der Herr, der neben mir sitzt, ist mein Ehemann, Colonel John
Tibbet.«
    Lily nickte dem Colonel, einem
kräftigen Mann mit schneeweißem Haar und Schnurrbart, höflich zu, aber den
Major ignorierte sie. Keiner der beiden Männer erhob sich, wie sie es unter
anderen Umständen vielleicht getan hätten.
    »Laß das arme Kind mit seiner Arbeit
weitermachen, Gertrude«, meinte der Colonel Tibbet und begann sich mit seinem
Essen zu beschäftigen.
    Darauf verstummte Mrs. Tibbet, und
Lily kehrte in die Küche zurück. Den Rest des Tages verbrachte sie damit, von
einem Tisch zum anderen zu eilen, Kaffeetassen nachzufüllen, Essen zu servieren und schmutziges
Porzellan und Besteck abzuräumen.
    Als das Lokal Stunden später endlich
schloß, schmerzten ihre Füße, und sie war so müde, daß ihr fast die Augen
zufielen. Eine weitere Stunde verbrachte sie mit Geschirrabwaschen und
Aufräumen, dann war es endlich soweit, daß sie ihren Umhang und ihre Haube
holen konnte. Als sie in den kühlen Frühlingsabend hinaustrat, wartete Major
Halliday auf sie.
    Er zog seinen Hut. »Guten Abend,
Miss Chalmers.«
    »Was wollen Sie?« Lily sah ihn
unfreundlich an.
    Der Major lächelte, und Lily sah,
daß er gebadet hatte und eine frische Uniform trug. Er zögerte einen Moment,
dann antwortete er: »Ich würde Sie gern nach Hause begleiten. Es ist schon
dunkel, und eine Stadt voller Soldaten ist kein Ort für eine Frau allein.«
    Lily straffte ihre Schultern. »Ich
wohne ganz in der Nähe«, entgegnete sie abwehrend. »Ich brauche keine
Begleitung.«
    Es war, als hätte sie nichts gesagt.
Major Halliday paßte sich ihren Schritten an und setzte seinen Hut wieder auf.
»Wo haben Sie gelebt, bevor Sie hierherkamen?« wollte er wissen.
    Lily seufzte. Der Major war über
eins achtzig groß und sicherlich doppelt so schwer wie sie. Es bestand keine
Aussicht, ihn loszuwerden, solange er es nicht wollte. »In Nebraska«, erwiderte
sie kurz angebunden und ging schneller.
    Der Major runzelte die Stirn. »Das
ist sehr weit von hier. Haben Sie Familie in Tylerville?«
    Ein alter Schmerz erwachte in Lily,
als sie an ihre verlorenen Schwestern dachte. Vielleicht würde sie sie nie
wiederfinden, trotz ihrer Gebete, ihrer Briefe und obwohl sie schon so viele
Orte abgesucht hatte. Sie schüttelte den Kopf. »Nein, ich habe keine Familie.«
    »Haben Sie irgendwo anders
Verwandte?« beharrte der Major.
    Lily warf ihm einen kurzen Blick zu.
»Einen Adoptiv-Bruder in Spokane.« Von Emma und Caroline wollte sie ihm nichts
erzählen, das würde nur alte Wunden aufreißen. »Warum sind Sie so neugierig,
was mich angeht, Major?«
    Er lächelte. »Ich heiße Caleb«,
verbesserte er sie, ohne auf ihre Frage einzugehen.
    »Das ist mehr, als ich wissen will«,
entgegnete Lily hochmütig, und darüber lachte er.
    »Das mag schon sein. Darf ich Sie
Lily nennen?«
    »Nein, das dürfen Sie nicht. Ich bin
Miss Chalmers für Sie, wenn Sie schon unbedingt mit mir reden müssen.« Wieder
lachte er, und sein Lachen hatte einen tiefen und sehr männlichen Klang. »Sie
haben die warmherzige Geselligkeit eines Igels, Miss Chalmers.«
    »Danke.« Es irritierte Lily, als sie
sich dabei ertappte, wie sie wieder an seine Brust dachte. Er war ein starker,
gutgebauter Mann, der nach einem harten Arbeitstag bestimmt nicht über seinem
Essen einschlief ... Aber es bestand wenig Hoffnung, ihn in einen Farmer zu
verwandeln. Seinem Rang nach zu urteilen, mußte Caleb Halliday schon sehr
lange bei der Armee sein, und er hatte sicher vor, auch dort zu bleiben.
    Inzwischen hatten sie das Haus
erreicht, in dem Lily wohnte, und darüber war sie erleichtert und auch ein
bißchen traurig. Als sie auf der hölzernen Veranda stand, zwang sie sich zu
einem Lächeln. »Gute Nacht, Major«, sagte sie.
    Bevor sie sich jedoch abwenden und
hineingehen konnte, ergriff er ihre Hand. »Erzählen Sie mir, warum Ihr Bruder
Ihnen diese weite Reise gestattet hat – so ganz allein.« Die Worte klangen fast
wie ein Befehl, so höflich sie auch formuliert sein mochten.
    Lily versuchte, ihm ihre Hand zu entziehen.
»Ich bin fast neunzehn Jahre alt«, entgegnete sie scharf. »Ich habe Rupert
nicht um Erlaubnis gebeten.« Schuldbewußt dachte sie daran, wie sie Spokane, wo
Rupert heute lebte, verlassen hatte, ohne sich von ihrem Adoptivbruder zu
verabschieden oder sich wenigstens dafür zu bedanken, daß er immer so gut zu
ihr gewesen war.
    Wieder
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