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Liebesnaehe

Liebesnaehe

Titel: Liebesnaehe
Autoren: Hanns-Josef Ortheil
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leisten. Nur Bücher, die ich selbst mag und von denen ich glaube und hoffe, dass die Hotelgäste sie auch mögen. Viele der Gäste kenne ich inzwischen schon gut, sie kommen zu mir in die Buchhandlung und erzählen mir ihre Geschichten und von ihren Sorgen, und dann überlege ich, welches Buch das richtige für sie wäre.

    – Na so was, sagt er, eigentlich hattest Du doch immer eine Distanz zu allem, was mit Therapeutischem zu tun hat, Du hast darüber doch immer Deine Witze gemacht.
    – Früher habe ich das, antwortet sie, aber je älter ich werde, umso mehr therapeutische Qualitäten entdecke ich an mir. Dabei sage ich den Hotelgästen ja gar nichts Besonderes, ich sage nur ein paar klare und vernünftige Dinge und überlege, wie ich selbst in dieser oder jener Situation handeln würde. Und genau das reicht vielen Gästen schon, denn sie schätzen die Eindeutigkeit und die Klarheit, und dass ihnen einfach mal jemand sagt: Das würde ich tun und das nicht, das mag ich, das nicht, und zwar aus diesen oder jenen Gründen. Daneben aber erfahre ich natürlich auch etwas über die Bücher, ich gebe vielen Gästen eine kleine Auswahl mit aufs Zimmer, sie lesen die Bücher an und erzählen mir dann, wie ihnen diese Buchanfänge gefallen haben. Inzwischen habe ich sogar begonnen, die Kommentare der Gäste auf kleinen Karteikarten zu notieren. Mit Datum und Namen, einfach nur das, was sie erzählen.
    Sie erhebt sich und verschwindet hinter einem kleinen Vorhang. Dann taucht sie wieder auf und winkt ihn zu sich heran. Er kommt zu ihr und schaut in die kleine Kammer, die sich hinter dem Vorhang befindet. Auf den Regalen stehen lauter Karteikästen mit Hunderten von Karteikarten, anscheinend in den verschiedensten Farben beschriftet.
    – Das ist mein geheimes Archiv, flüstert sie, und er muss nun doch darüber lächeln, wie sie das alles mit beinahe kindlichem Stolz präsentiert.
    – Darf ich mal hineinschauen? fragt er sofort.

    – Vielleicht später einmal, antwortet sie.
    Dann aber schließt sie die Kammer wieder ab und zieht den Vorhang hinter sich zu, sie nimmt ihn für einen Moment an die Hand und geht mit ihm zum Eingang.
    – Komm, sagt sie, wir laufen ein paar Schritte, Du kannst Dir gar nicht vorstellen, wie ich mich darauf gefreut habe, mit Dir ein paar Schritte zu laufen.
    Sie holt ein kleines Schild aus ihrem Schreibtisch und hängt es an einem Haken an der Innentür auf: Ich bin gleich wieder da , steht darauf, und weiter: Wenn Sie es eilig haben, rufen Sie folgende Nummer an …
    – Du benutzt jetzt ein Handy? fragt er.
    – Ja, antwortet sie, während sie die Buchhandlung abschließt, ich sagte doch, ich bin jetzt auch eine Therapeutin, und Therapeutinnen sollten eben gleich zur Stelle sein.

    Sie verlassen das Hotel und biegen auf einen Spazierweg ein, der in die nahen Wälder und weiter hinauf bis ins Gebirge führt. Er ist von ihrem Projekt, Karteikarten mit Notizen über die Lektüren ihrer Kunden anzulegen, beeindruckt, er fragt sie, warum sie nicht schon während ihrer gemeinsamen Telefonate in den letzten Wochen davon erzählt hat.
    – Weil ich mir nicht sicher war, ob ich das Projekt durchhalten würde, antwortet sie. Hätte ich das Projekt aber nicht durchgehalten, hätte ich Dir auch nichts davon erzählt, nein, bestimmt nicht, das wäre mir zu peinlich gewesen.
    – Ich erzähle Dir immer von meinen Projekten, antwortet er, Du bist der einzige Mensch, dem ich davon erzähle,
das weißt Du, Du bist in diesen Dingen meine wichtigste Vertrauensperson. Immer, wenn ich ein Projekt habe oder an einem schwierigen oder heiklen Punkt angekommen bin, spreche ich mit Dir. Das hilft, ja, es hilft wirklich fast immer.
    – Und, wie steht es? fragt sie, bist Du wieder an einem heiklen Punkt angekommen und brauchst meine Hilfe?
    – Ja, sagt er, Du vermutest richtig, ich brauche Deine Hilfe.

    Sie hakt sich bei ihm ein, sie gehen nun den ockergelben Spazierweg entlang, und er spricht sie noch einmal auf ihr Notierprojekt an. Er kommt nicht von diesem Thema los, es erstaunt ihn, dass sie derart konsequent an diesem Projekt gearbeitet hat, ein so unermüdliches Notieren und Schreiben passt eigentlich gar nicht zu ihr, während ihrer Münchener Jahre hat sie nie von so etwas gesprochen.
    Während sie weiter davon erzählt, denkt er darüber nach, ob sie sich verändert hat. Ja, wahrhaftig, es kommt ihm so vor, als hätte sie sich gegenüber ihrer Münchener Zeit stark verändert und als wäre sie ruhiger und
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