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Leichenroulette - Roman

Leichenroulette - Roman

Titel: Leichenroulette - Roman
Autoren: Random House
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Kapitel 1
    1
    Dick, dick, zu dick – das waren die Worte, die sich wie ein roter Faden durch meine Kindheit zogen. »Frau Meier, Ihre Hermine wird immer runder. Diese vielen Süßigkeiten! Man sieht sie aber auch dauernd naschen.« Gerne machten freundliche Nachbarinnen aus der Schlossergasse meine Mutter beim morgendlichen Einkaufstratsch darauf aufmerksam, dass ihre einzige Tochter fast einer kleinen Tonne glich.
    Schon im Kindergarten habe ich gern gegessen. Selbst die in der Nachkriegszeit bei der sogenannten »Ausspeisung« verabreichte dicke Erbsensuppe mundete mir vortrefflich. Voll Gier musste ich jedes Mal schlucken, wenn man unser Mittagsmahl in einer großen Milchkanne aus Aluminium herbeitrug, der Deckel sich klappernd öffnete, mir ein köstlicher – von anderen Kindern als ekelhaft empfundener – Geruch in die Nase stieg, der gusseiserne Schöpflöffel in den zähen Brei tauchte.
    Zu Hause hingegen war für mich immer Ostern, da meine selbst schlanke und ranke Mutter dazu überging, ihre Lebensmittel vor meinen gierigen Händen zu verstecken. Doch ich suchte beharrlich und fand – Rosinen, die Kochschokolade, die Eierbiskotten. Die Strafe folgte auf dem Fuß. Sehr anpassungsfähig, änderte ich blitzschnell meine Taktik und half emsig in der Küche, wobei immer das eine oder andere Häppchen für mich abfiel. Ganz nebenbei lernte ich ausgezeichnet kochen.
    Abgesehen von meinen Figurproblemen, die mich getreulich weiterbegleiten sollten, gestaltete sich meine Kindheit gar nicht so schlecht. Ob ich allerdings, wie die Schauspielerin Lilli Palmer in ihrer Autobiografie »Dicke Lilli, gutes Kind« über sich selbst schrieb, auch ein gutes Kind war, könnte man bezweifeln.
    Ich stamme aus einer kleinen Stadt in einer wildromantischen, aber ärmlichen Region im Norden Öster reichs an der böhmisch-mährischen Grenze. Mit Eltern und Großmutter lebte ich in einer etwas düsteren, zur Gasse hin gelegenen Wohnung eines Mietshauses, im Schatten der imposanten barocken Stadtpfarrkirche. Das ehemalige bäuerliche Anwesen war sehr alt; es bestand aus einem kleinen Haupthaus, einer durch ein schweres Tor geschützten Einfahrt, einem für wilde Spiele bestens geeigneten Innenhof und einem winzigen »Ausnahmstüberl«. Auf engstem Raum vereinte sich ein wahrer Mikrokosmos menschlicher Existenzen. Das Zusammenleben der sogenannten »Parteien« verlief zu keinem Zeitpunkt konfliktfrei und bot den Kindern der Mieter – meiner besten Freundin Mizzi und mir sowie den zwei Buben Raini und Günther – stets Unterhaltung.
    Es war eine schöne, spannende und abwechslungsreiche Zeit voll Geborgenheit und Sicherheit, aber mit festen Regeln und Normen. Bereits in der Volksschule scharte ich eine kleine Gruppe von gleichaltrigen Buben und Mizzi als einzigem Mädchen um mich. Sie waren meine »Vasallen« – das Wort hatte ich bei Erwachsenen gehört und übernommen –, denen unter meiner Leitung auch ganz ohne Gameboys und Computerspiele nie langweilig war. Mit Raini, Günther, Otti, Waldi, Seppi und Mizzi erforschte ich die tiefen und geheimnisvollen Keller, die sich wie ein Spinnennetz unter der Stadt hinzogen. Nach dem Vorbild von Abenteuerromanen, die wir aus der städtischen Leihbücherei bezogen, klopften wir die Wände auf der Suche nach eingemauerten Schätzen ab.
    Der Unterricht endete um 12 Uhr, und einer eisernen Regel zufolge erledigten wir die Hausaufgaben sofort nach dem Mittagessen. Kaum war eine hübsche, kunstvolle »Zierleiste« säuberlich unter die Rechnungen und Übungssätze gemalt und die Schultasche für den nächsten Tag gepackt, veranstalteten wir auch schon auf dem Katzenkopfpflaster vor dem Haus polternd Rennen mit jenen kleinen Leiterwagen, die man damals allgemein zum Transport sperriger Sachen benutzte – sehr zum Missvergnügen der älteren Anrainer, die meist gerade dann ihr kleines Schläfchen hielten. Zum Gaudium meiner Vasallen setzte ich meine schönste Puppe – ein sinnreiches Geschenk einer Tante zur Förderung meiner weiblichen Eigenschaften – in das klapprige Gefährt. Flugs ging es die steile Gasse hinunter. Bald versanken die großen, tiefblauen, von dichten schwarzen Wimpern gesäumten Augen der zarten Porzellanfigur in ihrem lieblichen Blondkopf, was ihr ein sinister-dämonisches Aussehen verlieh. Wir bogen uns vor Lachen.
    Einige Mütter sahen uns kopfschüttelnd zu. Naserümpfend stellten sie meine Mutter zur Rede: »Frau Meier, warum lassn’s denn die
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